Jürgen Krüger
Hirnforschung

 

 

letzte Änderung dieser Webseite : 12. April. 2024


Der Hirnbrief 1, 2024

Heute,gestern, vorgestern

Schon seit einigen Monaten habe ich keinen Hirnbrief geschrieben, weil ich festhänge mit der Frage, die schon im Hirnbrief 1/2022 ("Zwei Gedankenstränge)" angesprochen wurde: Wie kann ich, als Lebewesen, das nach rein naturwissenschaftlichen Prinzipien beschrieben wird, und das demzufolge nur in der Gegenwart lebt, Konzepte wie "gestern" oder "vorgestern" entwickeln? Gedächtnis, vor allem vom episodischen Typ, kommt sofort in den Sinn, aber das kann so einfach nicht gehen, denn ein Abruf eines gespeicherten Inhalts ist ja auch nur ein gegenwärtiger Vorgang. Wenn ich zwei Tage nach dem Abspeichern eines Außenweltereignisses diesen Speicherinhalt wieder abrufe, ist das Ziel, dass dem ausgelesene Inhalt irgendwie das Signal (oder die Vorstellung) "vorgestern" angehängt wird. Muss ich den Hinweis darauf schon beim Einspeichern mit abspeichern, oder entsteht das Signal/die Vorstellung erst beim Wieder-Auslesen?

Es würde ja in einem ersten Schritt schon genügen, wenn man erkennen könnte, dass verschiedene Abspeicherungen irgendwie geordnet werden können. Das soll heißen (wenn man schon weiß, was dabei herauskommen soll), dass man erkennen kann, dass die Abspeicherung Y später stattgefunden hat als die Abspeicherung X. Beim Wiederauslesen des Speicherinhalts muss die gefundene Ordnung schon vorliegen und erkennbar sein. Wie in einem materiell vorliegenden Filmstreifen wäre die Aufreihung der Einzelbilder von Anfang bis Ende in der Gegenwart, d.h. beim Auslesen, verfügbar, und man könnte dann dieser Ordnung die Bedeutung "Zeit" zuweisen. Damit würde man sich in das "Reich der Bedeutungen" begeben. Dieses Reich ist das Bewusstsein.

Was für Zeitsignale kommen in Frage? Ich mache es mir einfach, und beschränke die Betrachtungen über Zeitliches nur auf  ein "Mitternachtssignal", das ich mit Hilfe meiner Sinnesorgane dem Sternenhimmel entnehme, und das besagt, dass ein neuer Tag beginnt. (Für diese Betrachtung nehme ich an, dass der Himmel niemals durch Wolken verdeckt ist.)

Nun ist der 15. März. Das weiß ich jedoch nicht, weil ich den Entwicklungsstand meiner Kenntnisse von vor 9000 Jahren voraussetzen will. Vielmehr gleicht jeder Tag jedem anderen, wenn auch jeden Tag Unterschiedliches passiert, aber es gibt immer wieder nur "Heute" oder "die Gegenwart". Da kann beispielsweise Winter sein; man merkt, dass es heute kalt ist, aber dass es gestern auch kalt war, steht nicht zur Verfügung.

Nun aber sind 22 Rosensträucher zu beschneiden. Am 15. beende ich die Tätigkeit nach dem fünften Strauch. Ich speichere "fünfter Strauch erledigt" ab. Dass dieses am gegenwärtigen Tag geschieht, ist alternativlos und muss nicht mit abgespeichert werden. Später, nach der genannten Abspeicherung, tritt das Mitternachtssignal auf, d.h. es beginnt ein neuer Tag. Dass da zuvor jener Speicherinhalt erzeugt wurde, ist in diesem Moment neuronal nicht verfügbar, denn normalerweise wird man nicht nach jedem Mitternachtssignal nachschauen, ob Inhalte in den Speichern sind, denn man will sie in diesem Moment gar nicht weiterverarbeiten. Vor allem ist ja der genannte Speicherinhalt nicht der einzige, der an einem Tag abgelegt wurde. Vielmehr sind es Dutzende oder gar Hunderte.

Die umfangreiche Prozedur "Rosen schneiden" mit allen Beobachtungs- und Verhaltensdetails wird angetrieben durch eine zugehörige Motivationsprozedur, die von wesentlich geringerem Umfang ist, und die wiederum von weiteren Umständen angeworfen wird. Diese wird nun am 16. März, also am Folgetag, erneut angeworfen, und damit beginnt eine Suche nach Start-Umständen. Also wird der Speicherinhalt "fünfter Strauch erledigt" ausgelesen. Mit dieser Angabe allein könnte ich durchaus weiter arbeiten. Hier geht es aber darum, dass die Angabe auch ein Signal "gestern" enthalten soll.

Zunächst einmal: Wenn es nur pauschal zu unterscheiden gäbe zwischen Gegenwart und Vergangenheit ohne weitere Zeitangaben, dann könnte man alle neuronalen Erregungen, die durch das besondere neuronale Manöver "Speicher auslesen" entstanden sind, mit der Bedeutung "Vergangenheit" belegen. Das ist dann einfach eine besondere Kategorie von Erregungen, die ebenso wie andere Kategorien, z.B. "visuelle Signale" oder "auditive Signale", jeweils besonders zu behandeln sind. Der Haupt-Unterschied wäre, dass man nicht einfach, dem Inhalt des ausgelesenen Signals entsprechend, Motorkommandos daraus herleiten darf, weil sie ja nicht in die gegenwärtige Zeit gehören.

Immerhin kann man zwischendurch festhalten, dass schon diese einfache Bedeutungszuweisung zum einen mit dem Bewusstsein, und zum anderen mit dem Gedächtnis vom episodischen Typ zusammenhängt.

Für jemanden, der/die den schnellen Zusammenhang liebt: Das episodische Gedächtnis bildet ein Bindeglied. Dieses Gedächtnis ("ich erinnere mich"; im Gegensatz zum Radfahren-Lernen) hängt insofern mit dem Bewusstsein zusammen, als man meint, den Autoschlüssel "unbewusst" irgendwo abgelegt zu haben, wenn man sich an die betreffende Stelle nicht erinnert. Andererseits hängt dieser Typ von Gedächtnis ganz offensichtlich mit "Zeit" zusammen; ohne dieses gäbe es (wohlgemerkt im Bewusstsein) keine Vorstellung von Vergangenheit. Hingegen der Abruf der Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses beim Radfahren ist immer unbewusst; durch bewusstes Drehen des Fahrradlenkers kann man das Gleichgewicht nicht halten. Das Ablegen des Autoschlüssels kann man durchaus rein prozedural abwickeln, wenn man ihn immer an derselben Stelle ablegt. Nur dann kann man ebenso mit einer anderen Prozedur "Autoschlüssel nehmen" auch das Wieder-Aufnehmen ganz ohne Bewusstsein rein "automatisch" abwickeln.

Nun aber weiter mit dem Problem "gestern". Ich habe also in der damaligen Gegenwart den Speicherinhalt "fünfte Rose erledigt" erzeugt, natürlich ohne zu wissen, oder festzulegen, wann ich diesen abrufen werde. Er enthält also keinerlei Zeitangabe. Als ich ihn schließlich abrufe, sind in der Zwischenzeit zwei Mitternachtssignale vorübergegangen. Die Abspeicherung hat also vorgestern stattgefunden. Ich habe jedoch nicht, ab dem Tag der Abspeicherung, damit begonnen, die Anzahl der Mitternachtssignale zu zählen. So ein Verfahren könnte vielleicht existieren (aber schon das ist nicht einfach), wenn es nur eine einzige Abspeicherung gäbe. Jedoch für Hunderte von Speicherungen, die an verschiedenen Tagen stattfanden, kann nicht getrennt für jeden Fall eine Zählung beginnen.

Aber vielleicht kann automatisch ein sparsames Zusatzsignal als Anhang mit abgespeichert werden, das sich von allein allmählich abschwächt, so dass an seiner Größe "gestern" von "vorgestern" gut unterschieden werden kann, "vorgestern" von "vorvorgestern" schon schlechter, und "vor 6 Tagen" und "vor 7 Tagen" schon nicht mehr; dann wird der Fall pauschal als "vor ungefähr einer Woche" eingestuft.
Man erhält dann bei jedem Speicherabruf eine Angabe von der Art "vorgestern", keineswegs aber von der Art "15. März". Nur habe ich, um die Sache zu erklären, schon vorgegriffen, denn zunächst, sofern dieses Verfahren eingerichtet ist, liegen nur diese mehr oder weniger abgeschwächten Anhänge vor. Mit einem solchen System kann man weiterhin stets in der jeweiligen Gegenwart leben, und dabei gelegentlich Gedächtnisinhalte abrufen, die ein jeder einen Anhang hat, der unterschiedlich "vernebelt" oder anderswie abgeschwächt sein kann. Wenn man denselben Inhalt später erneut abruft, dann ist er stärker abgeschwächt, diesen Unterschied kann man allerdings aus keinem gegenwärtigen Moment heraus bemerken. Man kann nur bemerken, dass es im jeweils gegenwärtigen Moment unterschiedliche Abschwächungen der Anhänge gibt, d.h. dass die Zeitpunkte mehrerer Abspeicherungen unterschiedlich weit zurück liegen. Aber dass diese Abschwächungen als Zeitangaben aufgefasst werden sollen, ist noch nicht bekannt.

Wenn nun die Geschichte hier endete, dann könnte man zumindest verstehen, wie die Konzepte "gestern" und "vorgestern" etc. zustande kommen, die immer vom jeweiligen Jetzt aus gezählt werden, wohlgemerkt ohne dass man diese Angaben nun tatsächlich mit "Zeit" in Verbindung bringen müsste. Was man damit allerdings weiterhin nicht erfassen kann, ist, dass das abgespeicherte Ereignis, das ich beim Auslesen mit der Angabe "gestern"vorfinde, die Angabe "vorgestern" erhält, wenn ich einen Tag länger warte. Dass das nicht geht, liegt daran, dass ich bei dieser Betrachtung das einzige Jetzt verlassen habe und (einen Tag später) ein zweites Jetzt eingenommen habe.

Die Geschichte endet hier aber nicht: Es wäre interessant, wenn man eine unendlich lange Achse entwickeln könnte, so ähnlich wie wenn man lauter kurze Fasern zu einem einzigen quasi unendlich langen Faden verspinnt. Jede einzelne Abschwächungsskala ist ja nicht allzu lang, oder vielmehr verschwimmt ihr "hinteres" Ende in ununterscheidbaren immer kleineren Werten. Alle diese Skalen müssten zu einer langen Skala irgendwie miteinander verhakt werden. Erst dann wäre es interessant, das Ergebnis als Zeitskala aufzufassen.

Das ist aber noch längst nicht alles. Man würde ja meinen, dass die regelmäßig wiederkehrenden Mitternachtssignale eine größere Rolle spielen sollten.

Die Geschichte bis hierhin benötigt keinen Beobachter. Vielmehr kann man sich vorstellen, dass all das Dargelegte, ob es nun falsch oder richtig ist, einfach so IST, ohne dass irgendjemand wüsste, DASS es so ist.

Als nächstes will ich also darüber sinnieren, wie man all die kleinen Skalen zu einer langen Skala verspinnen kann. Dazu muss nun ein "Ich" sich von einer Gegenwart zur anderen bewegen, oder anderswie verschiedene Gegenwarten einnehmen, von denen aus jeweils gesagt wird, was "gestern" oder "vorgestern" ist. Auf einmal braucht man nun dieses Ich.

Ob bei derlei Überlegungen etwas herauskommt, ist unklar. "Der Krüger spinnt", werden einige sagen.