letzte Änderung dieser Webseite : 11. Apr. 2025
Der Hirnbrief 2, 2025
Raum
Wenn man eine rein neurowissenschaftliche Beschreibung des Gehirns hat, wie kommt man von da aus zum Bewusstsein? Vielleicht führt gar kein Weg wirklich bis hin zu diesem Ziel. Vielleicht ist das ganze Bemühen ein gedanklicher Kreisverkehr, und man erhält nur deswegen bestimmte Erklärungen über Hirnfunktionen, weil sie eben mit Hilfe genau dieser Hirnfunktionen zustande kommen. Dennoch kann man das ganze Bemühen nicht einstellen wegen dieser Vermutung. Vielmehr muss man sich einzelne Erklärungs-Etappen vornehmen. Eine davon ist, wodurch denn Affen gekennzeichnet sind und was sie ausmacht im Gegensatz zu anderen eher "gewöhnlichen" Tieren. In einigen Hirnbriefen (u.a. 3;2023, 1;2025) ist von diesem Punkt bereits die Rede gewesen, vor allem von der Rolle der Hände.
Hier geht es jedoch um das Raumkonzept.
Die Frage ist also, wie man wegkommt von dem Ort, an dem man sich befindet. Die Antwort scheint einfach, wenn man von außen ein Tier anschaut, und menschliches Wissen hat: "indem man seine Beinmuskeln bewegt". Ein Lebewesen hat aber nicht so ohne weiteres einen Anblick von außen auf sich selbst. Vielmehr ist die einzig mögliche Sicht eine Sicht von innen: Man ist sozusagen sein eigenes Gehirn. Dieses ist die Perspektive des Neurokosmos (siehe Hirnbriefe 21;2009, 43/44;2010). Dieser ist (in einem ersten gedanklichen Schritt) ein völlig abgeschlossenes Nervensystem, in dem die Signale kreisen, und von dem aus in einem zweiten Schritt geringfügige Kontakte zu einer "Außenwelt" hergestellt werden, von wo aus "Spontansignale" (= Sinnessignale) hereindringen. Diese müssen in die inneren Signale eingearbeitet werden.
Die Bezeichnung "Neurokosmos" soll hervorheben, dass es aus dieser Perspektive keine Konzepte wie "abgeschlossen" oder "Außen-" geben kann, sondern nur, ob ein neuronales Signal auf ein internes Signal zurückzuführen ist oder nicht. Man sieht, was gemeint ist, wenn man an den "gewöhnlichen" Kosmos, d.h. das Weltall, denkt. Für dieses ist klar, dass man keine Angabe machen kann, wo sich dieses Weltall befindet. Denn, könnte man einen solchen Ort angeben, dann gäbe es ja ein noch größeres Weltall, von dem das erstgenannte Weltall nur einen Teil einnähme. Und wenn im normalen Kosmos ein unbekanntes Signal aufträte, dann wäre es nicht hilfreich, anzunehmen, dass es "von außen" käme. Vielmehr würde man die Mechanismen überprüfen, von denen man annimmt, dass sie im Inneren des Weltalls (wo sonst?) gelten, und vermuten, dass die Kenntnisse über diese Mechanismen unvollständig sind.
Mit dem Konzept des Neurokosmos geht einher, dass ein "gewöhnliches Tier" sozusagen die Gesamtheit seiner neuronalen und synaptischen Prozesse ist, während Artgenossen in einem dafür zuständigen Teilgebiet dieser Gesamtheit bearbeitet werden. Deshalb ist "das Tier selbst" aus seiner eigenen Innensicht ein Unikum, das mit seinen Artgenossen überhaupt nicht vergleichbar ist. (Hirnbrief 27;2009). Mit anderen Worten: Es kann nicht erkennen, dass es selbst so etwas ist wie ein Artgenosse (den es sehr wohl bestens erkennt).
So ungefähr ist sozusagen die Ausgangssituation für ein Gehirn, das ein Raumkonzept entwickeln soll.
Die Probleme mit dem Raum sind insofern von großer Bedeutung, als es überhaupt kein Gehirn und kein Nervensystem gibt in Organismen, die sich nicht selbst bewegen können. In der Tat haben Pflanzen kein Nervensystem. In den Neurowissenschaften versteckt man sich üblicherweise hinter der klassischen Naturwissenschaft, in der Raum und Zeit unhinterfragt von vornherein fest vorgegeben sind und keinerlei Orts- oder Zeitabhängigkeit zeigen. Geht man woanders hin, oder ist man in einem anderen Jahrhundert, dann sind in allen Fällen die Konzepte "Raum" und "Zeit" unverändert gültig. All das muss schließlich durch ein Gehirn zustande gebracht werden.
Wenn ich die Innensicht eines Lebewesens einnehme, dann schreibe ich "ich".
Ich bin jetzt also ein "gewöhnliches Tier". Wie gesagt, ergibt es keinen Sinn, dass ich mich an einer Stelle im Raum befinde. "Ich" bin nur ein Geflimmer von neuronaler und auch synaptischer Aktivität. Wenn ich laufe (d.h. bestimmte neuronale Signale produziere, nämlich bein-motorische), dann entsteht ein Tanz von anderen Signalen in mir, nämlich verursacht durch eine Abfolge von Lichtmustern, die flimmern. Diese kann ich prozedural erlernen und wiedererkennen, wenn ich wiederholt bestimmte Abfolgen von Erregungen produziere, d.h. wenn ich bestimmte Wege mehrmals gehe. Dass ich dieses Geflimmer als "an mir vorbeiziehend" auffassen könnte, kann ich nicht erkennen. Ich muss mich nicht darum kümmern, was für Signale mir da vorgetanzt werden. Wohin die optischen Achsen meiner Augen genau zeigen, spielt ebenfalls keine große Rolle. Eine Flut von Spontan- (d.h. Sinnes-) signalen flimmert beim Gehen. Per Beinmotorik kann ich sie "antreiben". Für einen Menschen verhält es sich so ähnlich wie die Fingermotorik beim Wischen über den Händi-Bildschirm, womit ich das Vorbeigleiten der Sammlung von Äpp-Symbolen antreiben kann. Im Dunkeln reichen sogar die Bein-Antriebe allein aus; vielleicht gibt es auch noch irgendwelche Geräusche und Gerüche: ich nehme halt alles, was ich kriegen kann, um mich zu orientieren.
Nur erfahre ich auf diese Weise nichts über die Welt. Ich erfahre nicht, warum weitere Signale (vor allem angestrebte), die ich ebenfalls aus der Welt erhalte, sich verändern, wenn ich mich woanders hin bewege. Ein Mensch würde sagen: Man erfährt nicht, dass die Welt aus zahlreichen Strukturen und Gegenständen besteht, die sich an unterschiedlichen Stellen befinden. Freilich kann ich lernen, wenn ich mich wiederholt in der richtigen Weise orientiere, dass ich dann immer wieder Sinnessignale von wohlschmeckenden Möhren vorfinde. Aber damit ist nicht klar, was meine Orientierungsleistung mit der Existenz von Möhren zu tun hat. Was ist denn eine Möhre als solche? Für mich besteht sie aus einer Vielfalt von Wegen, auf denen ich zu Möhren gelange, im Idealfall egal von wo aus ich starte. Wenn ich jedoch weit entfernt bin von der Möhre und nicht zu ihr hinlaufe, dann gibt es die Möhre nicht. Eine Möhre ist für mich entweder eine zufällige Entdeckung, oder, wenn ich bereits eine Stelle kenne, wo es welche gab, dann ist eine Möhre zunächst mal ein prozeduraler Gedächtnisinhalt vom Vorbeiflimmern visueller Signale und von meinen Bein-Motorkommandos, und am Schluss die Berührung, der Geruch und der Geschmack, und freilich auch ein bißchen der Anblick der Möhre.
Was da ist, erkenne ich nur für spezielle ererbte Aufgaben, nämlich beispielsweise Beute zu finden, einen Sprung oder einen Sturz auf eine Beute genau zu steuern, einen fernen Feind zu entdecken, oder das Verhalten gegenüber Artgenossen zu steuern. Das geht zwar sehr gut in bestimmten Fällen, aber die meisten Details der Welt sehe ich überhaupt nicht. Als Mensch kennt man eine derartige Situation von der Hautberührung, auch durch die Kleidung hindurch, die sich während eines Tageslaufs ständig ändert. Die meisten Berührungen, wenn man die Aufmerksamkeit auf sie richtete, wären leicht und deutlich wahrnehmbar, aber normalerweise fühlt man sie nicht. So etwa sehe ich, und zwar sehr gut in bestimmten Fällen, aber das meiste sehe ich überhaupt nicht. Mit anderen Worten: Die Eigenschaft des Sehens, ein Fern-Sinn zu sein, kann ich kaum ausnutzen, im Gegensatz zum Tastsinn, der ein Nah-Sinn ist.
Dem "gewöhnlichen Tier" steht nur die Perspektive des Neurokosmos zur Verfügung, die ein leistungsfähiges Orientierungsvermögen bietet, so dass man sagen kann, dass ein solches Tier ein Raumkonzept hat (das vielleicht nur in den horizontalen Dimensionen gut ausgeprägt ist). Das Tier selbst ist in diesem Raum ein stillstehender Punkt, oder bestenfalls ein kleiner Pfeil in Kopfrichtung, relativ zu dem die Welt sich dreht und verschiebt. Und selbst dieser Punkt oder Pfeil wird nicht wirklich als solcher dargestellt, denn zu ihm gibt es keine Alternative. Bestenfalls könnte ein Neurowissenschaftler, der die Aktivitäten aller Neurone und Synapsen während eines Orientierungsvorgangs beobachtet, ermitteln, dass sich die Leistung des Gesamtsystems mit Hilfe eines Raums, in dem sich ein solcher Pfeil befindet, darstellen ließe. Diese Darstellung gibt es nicht, aber das System funktioniert. Für einen Menschen, mit seinem Bewusstsein und dem damit verknüpften "Wissen", sind diese Umstände sehr schwer vorstellbar. Alles sind hirn-interne Prozesse. Eine Außenwelt kommt nicht vor. Und dennoch erkennt ein Außenstehender, dass das Tier mit einer Außenwelt bestens zurechtkommt. Dieses Raumkonzept wird "ich-zentrisch" (egozentrisch) genannt. Auch dieses hat man als Mensch, wenn man täglich denselben langen Weg, mit vielen Abbiegungen, zur Arbeitsstätte geht, dabei irgendwelchen Gedanken nachhängt, aber nicht bemerkt, und nicht beeinflusst wird von den immer wieder anderen Autos, die am Straßenrand geparkt sind.
Das genannte System im gewöhnlichen Tier ist hochorganisiert. Seit vielen Jahrzehnten kennt man "Orts-Neurone" in Ratten oder Kaninchen, die erregt werden, wenn sich das Tier an einer bestimmten Stelle in einer Umgebung befindet, oder noch besser, wenn es gerade an dieser Stelle ankommt, oder sich durch sie hindurchbewegt. Dasselbe Neuron kann durchaus auch wieder aktiv werden, wenn das Tier an einem Ort in einer ganz anderen Umgebung ist. Hätte man den Überblick über viele derartige Neurone, dann ließe sich sicherlich erkennen, dass mit diesem System auch erkannt und erlernt werden kann, wenn man ein fernes Ziel erreicht hat, indem man ein dazwischenliegendes Gebiet "linksherum" umrundet hat, dass man es auch ganz systematisch erreichen können müsste, wenn man versucht, "rechtsherum" dort hin zu kommen. Dennoch: der Begriff "Orts-Neuron" bezieht sich immer nur auf den einzig in Frage kommenden Ort, nämlich wo das Tier selbst sich befindet. Wo ein Artgenosse oder irgendein Gegenstand ist, kann auf diese Weise nicht kodiert werden.
Wenn etwa eine Ratte die Aktion "Ein-Stück-Käse-fressen" abwickelt, dann ist das eine komplexe Prozedur. Alles zusammengenommen stehen der Ratte zwar eine ganze Reihe von Prozeduren zur Verfügung, aber für jede gegebene Aufgabe hat sie kaum eine Wahl, wie sie es machen kann. Wenn da viele Stücke Käse weit verteilt liegen, und viele Ratten laufen auf sie zu und fressen sie, dann würde ein externer Beobachter sofort erkennen, dass alle Ratten ungefähr das gleiche tun. Ich (also die Ratte selbst) kann jedoch aus meiner Neurokosmos-Perspektive diese Gleichheit nicht erkennen, denn nur von mir selbst geben meine Ortsneurone den Aufenthaltsort an, nur bei mir gibt es neuronale Spuren von Gerüchen und Berührungssignalen vom Maul sowie Motorkommandos, hingegen kann ich meinen eigenen Fressvorgang nicht sehen, sehr wohl jedoch den einer anderen Ratte. Ich sehe auch die anderen Ratten als ganze, nicht aber mich selbst (Hirnbrief 27;2009). Das Sehen spielt ohnehin nicht die Hauptrolle in meinem Leben.
Obwohl ein "Aufscheinen" von Bewusstseinsinhalten, z.B. von Wahrnehmungen, hier zunächst nicht betrachtet werden soll, lassen Beschreibungen aus diesem Bereich den Unterschied zum Menschen erkennen: Wenn man gefragt wird, wo man ist, dann sagt man: "zu Hause", oder "im Zirkus", und hat dabei die jeweilige Raumausstattung vor Augen. Wenn jemand damit nichts anfangen kann, dann benennt man größere Strukturen wie Straßen oder Gebäude. Wenn man in der Wildnis gerettet werden muss, enthält der Notruf, dass da ein Fluss ist, wie breit er ist, Pflanzenwuchs und eine genaue Beschreibung sichtbarer Berggipfel. All dieses sind Informationen aus der Fernsinn-Natur des Sehens. Hingegen wäre es wenig hilfreich, "nach Art des gewöhnlichen Tieres" zu melden, wie man da hingekommen ist, wohlgemerkt völlig ohne zu berücksichtigen, was es unterwegs zu sehen gab. Man muss bedenken, dass ein gewöhnliches Tier nur ein prozedurales Gedächtnis hat, das nur in dem Moment "rechts abbiegen" kennt, in dem es tatsächlich an der zugehörigen Stelle ist, nicht aber in Form einer Serie von erinnerten Abbiegungen. Wenn allerdings das prozedurale Erlernen eines komplexen Pfades so beschaffen wäre, dass mit einem bestimmten "jetzt rechts abbiegen" zugleich auch das "beim Rückweg hier links abbiegen" erlernt würde, dann wäre der Rettungsnotruf überflüssig. Im Übrigen ähnelt das geschilderte Verfahren einem modernen Navigationsgerät beim Autofahren: Man erhält nur gültige Abbiege-Aufforderungen für die jeweilige Gegenwart. Das Gerät greift allerdings auf völlig andere Prinzipien, nämlich Satelliten-Ortung zurück. Als Mensch ohne Gerätehilfe würde man jedenfalls alle unterwegs gesehenen Auffälligkeiten nennen.
Jetzt kommen die Affen ins Spiel. Natürlich ist dabei zu beachten, dass die Affen sich nicht aus "gewöhnlichen Tieren" entwickelt haben, oder vielmehr aus deren früheren Vorläufern, sondern sie haben sozusagen von vornherein mit einer eigenen Entwicklungslinie begonnen, in der größeres Gewicht auf das Sehen gelegt wurde.
Ich bin jetzt also ein Affe. Ich tue alles mit den Händen statt mit Maul oder Schnabel, und meine Hände sind für mich ebensogut sichtbar wie die eines Artgenossen. Dass der Sinn des Sehens gut ausgebaut sein muss, ist dafür eine Voraussetzung. Aus dem vorigen Hirnbrief 1; 2025 "Spiegelneurone" ist ersichtlich, dass in der Abteilung meines Gehirns, in der ich den Umgang mit meinen Artgenossen bearbeite, nun auch "ich, von außen gesehen" untergebracht wurde. Die Vergleichbarkeit von eigenen und fremden Händen ist also auf den ganzen Körper ausgedehnt worden. Der gewaltige Entwicklungsfortschritt ist, dass ich nun selbst ebenfalls einer von diesen nur von außen zu sehenden Artgenossen bin, und dass das neuronale Innenleben, das ich kenne, mit diesem Außenanblick verbunden ist. Dennoch muss immer wieder daran erinnert werden, dass all das Beschriebene, also sowohl ein Artgenosse, als auch ich selbst von außen, ein Teil meines neuronalen Innenlebens, d.h. meines Neurokosmos ist. Aber ich bin meinen Artgenossen irgendwie näher gekommen.
Es ist wichtig, den letzten Schritt nicht umgekehrt aufzufassen. Nämlich habe ich nicht erkannt, dass der Artgenosse ein ebensolches neuronales Innenleben hat wie ich, sondern nur, dass ich einen ähnlichen Anblick von außen biete wie er.
Man sieht an den Eigenschaften der Spiegelneurone, dass es nicht nur um Anblicke von Handbewegungen geht, sondern auch darum, was mit ihnen gemacht wird, etwa einen Apfel zu ergreifen. Dadurch gerät der Apfel, und vieles andere mehr, ebenfalls in die Welt der "Außen-"Anblicke.
Einige nähere Betrachtungen zum Sehvermögen sind nun angebracht.
Ich (ein Affe) lebe häufig auf Bäumen; dort fühle ich mich sicher; von dort oben sehe ich, was unten passiert. Da sitze ich in einem kleinen zoologischen Garten. Die sich vorbeischiebenden Menschenmassen interessieren mich nicht. Aber hinter diesem Zoo erstreckt sich eine riesige Fläche aufgelassener Äcker, überwuchert von Gestrüpp und Brombeerranken, nur mit Mühe für Menschen begehbar. Nun taucht auf einmal ein einzelner Mensch dort auf, sehr weit von dem Zoo entfernt. Nichts wie hoch auf den sehr hohen Kletterbaum, einige Genossen kommen sofort mit. Gemeinsam halten wir ausgiebig Ausschau nach diesem weit entfernten Primaten.
Wenn ich eine Heuschrecke erwische, dann habe ich sie zunächst in der Hand. Ich schaue sie genau an, drehe sie hin und her, zupfe an ihr herum, bis ich sie schließlich auseinandernehme. Schleimfäden ziehen sich von einer Hälfte zur anderen. Hin und her geht mein Blick. Wenn dies ein Artgenosse tut, ist für mich die Ähnlichkeit groß wegen des großen Gewichts der detaillierten visuellen Signale, selbst wenn der Ablauf im Einzelnen anders ist. In beiden Fällen durchlaufen die Anblicke zunächst eine umfassende visuelle neuronale Analyse, wobei für die Anblicke von Händen bereits fertige Analyseprozeduren zum Einsatz kommen. Danach gabelt es sich auf: Wenn ich der Ausführende bin, dienen die visuellen Signale zur Handsteuerung, aber auch zur visuellen Erkennung. Wenn der Genosse diese Aktion ausführt, passiert in mir nur die Erkennung. Diese ist in gewisser Weise der vordere Teil meiner Manipulationsprozedur.
Man gerät in Schwierigkeiten, wenn man der Frage nachgeht, warum die Außenwelt als "außen" gilt. Es ist letztlich die Frage, wie ein neuronales Netzwerk Aussagen über "Raum" zustandebringen kann. Wenn man sich vornimmt, darüber nachzudenken, müsste man eigentlich zuvor imstande sein, die eigenen Raumvorstellungen, die jeder Mensch hat, zu löschen.
Aus der neuronalen Perspektive gibt es zwei Sorten von Raumverständnis: das eine ist dasjenige (s.o.), das ich dem "gewöhnlichen Tier" unterstellt habe: Ich (ein solches Tier) laufe. Dabei rauschen an mir Lichtstrukturen (gemeinsam mit Hautberührungen und Geräuschen, zB. Rascheln im Gras) vorbei, deren Abfolgen ich erlernen kann. Mit Hilfe meiner Beinmotorik kann ich die Welt um mich herumverschieben. Immerhin ist mein Raumkonzept mehr als ein Auswendiglernen von einer Reihe von Abfolgen, denn ich erkenne räumliche Zusammenhänge derart, dass ich dasselbe Ziel auf unterschiedlichen Wegen erreichen kann. Ich kann zwar mit Äpfeln und deren Größe umgehen, sobald sie in Reichweite meiner Nah-Sinne sind, aber ich kann nicht erkennen, dass sowohl "Größe" als auch Entfernungsangaben in dasselbe Raumkonzept gehören.
Das andere Raumverständnis ist das der Primaten (ich bin jetzt ein Affe): Es beginnt damit, dass mir mein Sehvermögen von vornherein liefert, was da ist, denn ich nutze alle Möglichkeiten, die der Fern-Sinn "Sehen" bietet. Andernfalls könnte ich keine Gegenstände manipulieren, wie oben geschildert.
Aus meiner Innenperspektive sind zwei Aspekte von Bedeutung: Erstens muss ein Raumkonzept entstehen auf der Grundlage von Entfernungen von Bildkanten auf den Augen-Netzhäuten, aus Bildverschiebungen bei Augen- und Kopfwendungen sowie beim Vorangehen. Weiterhin muss ich einbeziehen, dass ich im Nahbereich das Hingreifen mit dem ausgestreckten Arm ersetzen kann durch einen kleinen Schritt und einen weniger weit gestreckten Arm. Zudem verwende auch ich das für das gewöhnliche Tier geschilderte Verfahren der Ortung meines Körpers in der Welt. Um all dieses zu verrechnen, muss ich enorm viel Hirnvolumen einsetzen; die menschliche Hirnforschung hat noch keine Klarheit gewonnen, nach welchen Prinzipien mir das gelingt. Ein brutales Drauflosrechnen wird es wohl nicht sein.
Es gibt aber noch den zweiten Punkt, nämlich dass ich die Ergebnisse meiner Analysen in eine Welt verlagere, die ich als "außen", also außerhalb meines Gehirns liegend auffasse. Ein Mensch, der seine Sinneseindrücke weitgehend über das Sehen erhält, ist ja nur sehr schwer davon zu überzeugen, dass er die Existenz einer Welt außerhalb seines Gehirns nicht beweisen kann. Fragt man dazu einen Mitmenschen, wird diese Behauptung normalerweise zurückgewiesen mit Hinweisen auf Motorik und Tastsinn: Man müsse ja nur den Apfel ergreifen und ihn an den Fingern spüren, dann wisse man, dass er sich an dem visuell wahrgenommenen Ort befindet (und nicht als Hirngespinst im Gehirn. Das wird allerdings nicht gesagt).
Man muss dabei bedenken, dass zu "die Welt ist außen" die Alternative nicht "die Welt ist in meinem Gehirn" ist. Vielmehr ist es das gänzlich andere Konzept des Neurokosmos, in dem es überhaupt keine Ortsangaben gibt. Im Gehirn des gewöhnlichen Tieres gibt es nur "Vorgänge" aller Art. Eine Sorte von Vorgängen besteht aus Ensembles von Beinmuskel-Kommandos und visuellem, auditivem und taktilem Geflimmer. Es lohnt sich, einige dieser Ensembles zu erlernen, weil damit Beute gefunden wird, oder Gefahren vermieden werden.
Die Frage nach dem "außen" ähnelt der Frage, ob man beweisen könne, dass ein 20-Euro-Schein tatsächlich den Wert 20 Euro habe. Im Neurokosmos gibt es den Geldschein mitsamt seinem Wert als Konzept, mitsamt allen möglichen Auswirkungen seines Wertes. In der Außenwelt gibt es nur den materiellen Geldschein.
Als Affe habe ich als Ausgangspunkt das geschilderte Raumkonzept des gewöhnlichen Tieres hergenommen. Hinzu kam die visuell dominierte Fähigkeit, zu erkennen, was da ist. Darin eingeschlossen sind das Nebeneinander der Gegenstände und deren Größe und Form, die Existenz von Hinteransichten, die ich zu sehen bekomme, wenn ich um das Objekt herumgehe, oder es herumdrehe; all dieses sind räumliche Konzepte. Auch meine Hände und die eines Artgenossen werden auf dieser Grundlage eingeordnet, und diese Erkenntnisse werden anhand des Anblicks von Artgenossen auf meinen ganzen Körper ausgedehnt, von dem ich in derselben Weise nicht alles sehen kann wie ich auch die Hinterseite eines Apfels nicht sehe. Der Körper des Artgenossen erscheint also als ein Objekt einer gewissen Form und Größe, der sich in einer gewissen Entfernung von anderen Gegenständen und Strukturen befindet. Letztere bilden also die Außenwelt relativ zu seinem Körper. Kurz gesagt: Die Außenwelt ist außen, weil ich den Artgenossen als einen (belebten) Gegenstand erkenne. Andere Gegenstände, die ich gleichzeitig erkenne, liegen außerhalb von ihm. Und weil ich ein ebensolcher im Prinzip erkennbarer Genosse bin, gilt auch für mich, dass die Welt außerhalb meines Körpers liegt.
Es ergab sich eine Vereinfachung bei der Bearbeitung des gesamten Einstroms von Sinnessignalen, wenn Bildkanten auf den Netzhäuten, beidäugiges Tiefensehen, Bildverschiebungen bei Augen-, Kopf- und Laufbewegungen, und das Hingreifen mit dem Arm gemeinsam in einem allgemeinen Schema von Ortsangaben untergebracht werden konnte, wobei weitere Sinnesdaten wie Farben, Materialeigenschaften, Temperatur, Geräusche und Gerüche getrennt gehalten werden mussten. Ihre Rolle musste durch Extra-Zuordnungen in dieses Grundgerüst eingefügt werden. Es sind die räumlichen Angaben (Größe, Entfernung), die für die Motorik besonders gut geeignet sind.
Man bemerkt, dass die Bewegungen des Sinnes-Apparats die Hauptrolle spielen. Wegen der Unbeweglichkeit der Pflanzen fehlt diesen ja in erster Linie das Ortungssystem der gewöhnlichen Tiere, aber nicht nur das, sondern es entsteht gar nicht erst ein Gehirn. So gesehen, ist eine Ratte in jedem kurzen Moment wie eine Pflanze, die sofort stirbt und dann im nächsten Moment wieder als eine andere Pflanze entsteht, und ihr Gehirn dient nur dazu, diesen Übergang von einem Moment zum nächsten zu regeln. Hierzu muss man sich daran erinnern (Hirnbrief 3;2022), dass ein gewöhnliches Tier immer in der jeweiligen Gegenwart lebt. Dies betrifft die Gesamtheit der neuronalen Erregungen. Alles, was längere Zeiträume betrifft, ist nur in den Synapsen als prozedurales Gedächtnis gespeichert, welches nur in der jeweiligen Gegenwart zur Wirkung kommt. Auf diese Weise hat das Tier keine Kenntnis von Vorgängen in der Vergangenheit oder Zukunft, obwohl seine Prozeduren es ihm erlauben, bestens mit Erfahrungen aus der Vergangenheit zurechtzukommen.
Alle gewöhnlichen Tiere, auch die Affen, sind auf die Existenz von Artgenossen angewiesen. Man bemerkt aber, dass die hier erzählte Geschichte ganz wesentlich darauf beruht, dass eine bestimmte zusätzliche Analyse von Anblicken ihrer Artgenossen den Affen einen Zugang zu weiterführenden Erkenntnissen gebracht hat.
In dem ganzen Text habe ich vermieden, von "Zeit" zu reden. Wenn ich mich demnächst über dieses Thema beuge, könnte die letztgenannte Feststellung eine unerwartete Rolle spielen.