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Der Hirnbrief 1, 2025
Spiegelneurone
Eine geläufige Vorgehensweise in der Naturwissenschaft ist, dass man von einer vorhandenen weitgehend bekannten Welt ausgeht, in der es aber unbekannte Systeme oder Eigenschaften gibt, deren Beziehungen zur bekannten Welt man klären möchte. Das Lebewesen, das da diese Klärung herbeiführen soll, wird nicht so genau angeschaut: Seine Rolle wird beschränkt auf eine Reihe von naturwissenschaftlichen Regeln, die anzuwenden sind.
Für dieses Lebewesen gibt es hingegen nur die Innenperspektive des Gehirns (siehe auch die Hirnbriefe 21;2009; 27/28;2010): Alle neuronalen Erregungen im Inneren gelten als dem Gehirn bekannt bis auf die wenigen, die über die Sinneseingänge hereinkommen. Diese gelten als spontan, weil sie durch keinerlei innere Vorläufer erklärbar sind (z.B. ein Apfel fällt vom Baum). Aus der Innenperspektive sind es "aus dem Nichts" entstandene neuronale Eingangssignale. Für die motorischen Ausgänge ist es komplizierter: Viele Muskeln haben sensorische Rückmeldungen, aber diese signalisieren nur, wie der Muskel sich verhält, aber nicht, was er in der Außenwelt bewirkt. In motorischer Hinsicht ist die Außenwelt sozusagen eine Versickerungsgrube neuronaler Signale. Die Muskelbewegungen haben jedoch wiederum aus der Außenwelt hereinkommende Sinnessignale zur Folge, die allerdings nur teilweise mit der vertrauten inneren Aktivität kausal verknüpft sind ("ich ergreife..."), aber zum anderen Teil belastet sind mit "Spontan"-Signalen ("... den Apfel"). Dieser momentane gesehene oder gefühlte Anteil "Apfel" ist aus der Innenaktivität nicht erklärbar. Erst nachdem vom Apfel Signale eingetroffen sind, kann begonnen werden, diese zu analysieren.
Betrachtet man ein "gewöhnliches Tier" aus der Innenperspektive, zB. eine Ratte, die ein Stück Käse frisst, dann kommen aus der Außenwelt Sinneseindrücke über den Geruchssinn und auch über das Sehen, dann über den Tastsinn und die Schnurrhaare, und schließlich eine Flut von Signalen aus dem Inneren ihres Mauls. Zudem schickt sie Kommandosignale aus, zunächst um sich dem Käsestück zu nähern, dann kann es zum Hilfseinsatz der Vorderpfoten kommen, dann kommt eine Abfolge motorischer Signale an die Muskeln des Mauls. Mehr oder weniger das ganze Gehirn ist damit befasst.
Wenn hingegen die Ratte beobachtet, dass eine andere Ratte ein Stück Käse frisst, dann ist davon nur der Teil ihres Gehirns betroffen, mit dem sich die Ratte mit ihren Artgenossen befasst. Ganz andere Signale kommen ins Spiel: Sie kann eine andere Ratte komplett und auch ihre Tätigkeit sehen (sofern die Aktion nicht im Dunkeln stattfindet), den Käse riechen und vielleicht begleitende Geräusche von der Tätigkeit hören, deren Analyse sie allerdings gar nicht benötigt, wenn sie selbst frisst. Dabei ist zu bedenken, dass dem Sehen bei einer Ratte nicht die große Bedeutung zukommt wie bei einem Primaten. Es funktioniert vor allem gut für die Orientierung im Raum, wo nicht ermittelt wird, was es zu sehen gibt, sondern wo man sich befindet.
Das "gewöhnliche Tier" besteht nur aus verschiedenen Prozeduren für die Aufgaben, die sich dem Tier im Leben stellen. Prozeduren, die nur Erkenntnisse erzeugen ("dies ist ein Apfel"), ohne dass sich mögliche Handlungen oder wenigstens Lernvorgänge anschließen, gibt es nicht. Für ein solches Tier spielt das Maul oder der Schnabel die Rolle des "Hantierungs"-Instruments, aber es gibt keinen Weg zu der "Erkenntnis", dass das eigene Maul das gleiche ist wie das Maul eines Artgenossen. Sogar für den ganzen Körper gilt diese Aussage.
Es bleibt dabei: Wenn ich (ein "gewöhnliches Tier") etwas tue, was zumeist mit Maul oder Schnabel geschieht, dann ist das etwas ganz anderes als wenn ich einen Artgenossen etwas tun sehe, auch wenn das genau das gleiche ist wie meine Aktion.
Zwar erkennt ein externer Beobachter die Gleichheit sofort, aber daraus kann man keineswegs schließen, dass ich (ein gewöhnliches Tier), der in der Ferne eine Nahrungsquelle entdeckt und nun dorthin laufe, und ein Kollege tut das gleiche, daran erkenne, dass unser beider Verhalten das gleiche ist. Vielmehr gehören derartige Verhaltens-Ähnlichkeiten von Artgenossen zum normalen Verhaltens-Repertoire, aber aus der Innensicht eines der Tiere ist es nicht das Gleiche.
Weil dieser Sachverhalt wichtig ist, sei er nochmals anders ausgedrückt: Wenn ich die für mich einzig in Frage kommende Innenperspektive anwende, dann bin ich mein ganzes Gehirn mitsamt seiner neuronalen Aktivität. Hingegen ein Artgenosse ist ein begrenztes neuronales Geschehen in einer Abteilung von mir, die für den Umgang mit Artgenossen zuständig ist. Ich bin ein Unikum, von dem es aus der Innensicht grundsätzlich nur eines gibt, nämlich mich, während meine Artgenossen eben Artgenossen sind, von denen es mehrere geben kann. Diesen Punkt hatte ich anderswo durch eine Kamera verdeutlicht, die andere baugleiche Kameras fotografiert: Die fotografierende Kamera muss ihre gesamten technischen Komponenten zum tatsächlichen Einsatz bringen, während die fotografierten Kameras nur Strukturen in lichtempfindlichen Elementen in ihrem Inneren sind.
Bei der Gelegenheit möchte ich den Leser bitten, sich nicht nach Menschenart vorzustellen, dass da also ein Stück Käse liegt, man wahrnimmt, wie dieses aussieht und riecht, und man dann dort hingeht, und es irgendwie zu sich nimmt. Vielmehr soll man sein Gehirn so auffassen wie jedes andere Organ, etwa die Leber oder die Niere. Ein jedes Organ bekommt Eingangssignale (die zumeist eher als Substanzen aufgefasst werden), die von seinen Zellen zu anderen Signalen oder Substanzen verarbeitet werden. Dabei kommt keine Wahrnehmung vor, die Niere "erkennt" nichts (und "weiß" das dann), sondern eine jede Zelle macht aus dem, was gerade vorliegt, im nächsten Moment das, was ihren Fähigkeiten entspricht, und so geht es von Moment zu Moment immer weiter. Sehr komplexe Leistungen, auch mit Lernvorgängen, kommen in allen Organen, auch im Gehirn, so zustande. Dass das Organ etwas "erkennt" oder "wahrnimmt", oder etwas "weiß", kommt dabei nicht vor, weil damit Bedeutungen von zellulären Prozessen gemeint sind, die es nicht gibt ohne ein Bewusstsein.
Nun beruht eine selbst ausgeführte Aktion auf einer riesigen Prozedur, die aus einer Vielzahl von Unterprozeduren zusammengesetzt ist. Eine Prozedur ist ein Ensemble von ausgewählten synaptischen Verbindungen und deren Stärken zwischen Neuronen eines riesigen Netzwerks. Die Prozedur existiert also auch, wenn sie nicht benutzt wird; sie ist ein Teil des prozeduralen Gedächtnisses. Eine Prozedur erkennt bestimmte Erregungssituationen vor allem von den Sinneseingängen, die sie dann in eine Aktion umsetzt. Wenn es eine "Unter"-Prozedur ist, dann kann das Verarbeitungsergebnis ein Signalmuster sein, das von anderen Prozeduren als passendes Eingangssignal erkannt und entgegengenommen wird. Hinzu kommt eine Motivationsprozedur, die der Aktionsprozedur einen bestimmten Auftrag erteilt. Die Aktionsprozedur erarbeitet schließlich die Kommandos an die Muskeln, wobei sie natürlich auch die Sinnessignale verarbeiten muss, die zu unterschiedlichen Gegenständen und Aufgaben gehören.
Eine Motivationsprozedur hat meistens einen geringeren Umfang. Vereinfacht gesagt, liefert sie an die Neurone der Aktionsprozedur eine pauschale Erregung, die wie eine Art Vorwärmung wirkt, so dass die gewünschte Prozedur gegenüber anderen hervorgehoben und leichter von einem Spektrum aus hinreichend passenden Eingangssignalen angeworfen werden kann.
Nun zu den Affen, die einen Großteil von Aktionen mit ihren Händen durchführen, wobei die visuelle Kontrolle eine wesentliche Rolle spielt. Zunächst ist (gedanklich) die Sachlage für die Affen dieselbe wie für andere "gewöhnliche" Tiere: Eine eigene Tätigkeit ist aus der Innensicht etwas ganz anderes als die beobachtete, von einem Artgenossen ausgeführte gleiche Aktion.
Der Einsatz der Hände bringt jedoch neue Gesichtspunkte mit sich: Im Hirnbrief 3,2020 hatte ich geschrieben, dass die Besonderheit der Affen, im Gegensatz zum "gewöhnlichen" Tier, verdeutlicht werden kann durch das Beispiel eines Roboters, der mit Hilfe einer Greifzange Manipulationen durchführen kann, die über eine Videokamera gesteuert werden. Wenn man in das Gesichtsfeld der Kamera die Greifzange eines zweiten, baugleichen Roboters bringt, dann muss man ein regelungstechnisches Chaos erwarten. Im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte sind die Affen dieser Situation begegnet, so dass die Verhinderung von chaotischen Fehlsteuerungen sogleich mit entwickelt werden musste. Man kann den Sachverhalt auch anders ausdrücken: Für die Affen stellte sich heraus, dass die Anblicke fremder Hände auch ein Teil ihrer eigenen Manipulations-Steuerung sein können. So gesehen, ist das ein extra zu bekämpfender Nachteil.
Aber es war auch ein Gewinn. Andernfalls gäbe es keine Affen. Nämlich entstand nun die Kategorie "Anblick von Händen", die im Evolutionszweig der Primaten als eigene und als fremde Hände vorkommen. Weil das Sehen stark ausgebaut wurde, konnten die Affen die Gleichheit eigener und fremder Hände sehr gut erkennen, obwohl diese zwei Sorten traditionell in völlig verschiedenen Prozeduren ("eigene Hantierungen", bzw. "Beobachtung von Hantierungen des Artgenossen") vorkamen. Der Umgang damit wurde schon dadurch erleichtert, dass man selber zwei Hände, und sogar auch noch hand-ähnliche Füße hatte. Das Ergreifen einer Banane, welches auch eine Erkundung ihrer Eigenschaften ist, konnte nicht nur variieren durch unterschiedliche Handstellungen, sondern auch durch die Benutzung der einen oder der anderen Hand, oder beiden gemeinsam.
Die Untersuchung der "Spiegelneurone" im Gehirn der Affen liefert weitere Einblicke. Einzelne Neurone wurden so bezeichnet, wenn sie nur bei einer bestimmten Hantierung des Affen erregt wurden (etwa das Ergreifen einer Erdnuss), aber sie auch erregt wurden, wenn der Affe die gleiche Hantierung (im Experiment zumeist bei einem Menschen) beobachtete. Andere Hantierungen, selbst ausgeführt oder beobachtet, ergaben keine Erregung in diesem Neuron. Das allein war schon eine wichtige Entdeckung, die die Besonderheit der Affen gegenüber den "gewöhnlichen Tieren" herausstellte. Das Herausgreifen einzelner Neurone vermittelt jedoch nur ein undeutliches Bild vom neuronalen Geschehen. Registriert man hingegen im Gehirn die Aktivität vieler Neurone in einem Spiegelneuron-Gebiet, dann sieht man, dass es eine Hantierung (z.B. das Ergreifen der Erdnuss) gibt, selbst ausgeführt oder auch bei anderen Primaten beobachtet, bei der alle Neurone tätig sind, aber ein jedes mit einem anderen Erregungsverlauf. Auf jeden Fall sind alle Erregungen irgendwie auf den entscheidenden Moment fokussiert, nämlich zu dem die Hand "zuschnappt". Einen gleichen Erregungsverlauf zeigt nur ein Bruchteil für beide Fälle; nur diese werden als Spiegelneurone bezeichnet.
Untersucht man dieselben Neurone für eine andere Hantierung, etwa eine Rosine von einem Spieß abzunehmen, dann sind nur wenige Neurone beteiligt, aber auch wieder für die eigene und die fremde Aktion. Man muss eine andere Gruppe von Neuronen finden, um optimal viele Neurone zu finden, die für diese Manipulation tätig sind. Solche Gruppen überlappen sich zum großen Teil, weil die beteiligten neuronalen Prozeduren zusammengesetzt sind aus Unterprozeduren, die mehrfach verwendet werden.
Auch kann man an einer Gruppe von Neuronen, die auf das Ergreifen von Apfelstücken reagiert, beobachten, dass die Gruppe nicht reagiert, wenn dem Affen ein zunächst unidentifizierbarer Gegenstand gezeigt wird. Wenn sich dann herausstellt, dass der Gegenstand als eine Greifzange funktioniert, die ein Apfelstück ergreift, dann zeigen die Neurone eine schnelle Lernfähigkeit, und beginnen nach wenigen Wiederholungen, auf das beobachtete Ergreifen so zu reagieren wie wenn es von einer richtigen Hand ausgeführt würde. Andere Experimente haben ergeben, dass es nicht einfach um Handbewegungen geht, sondern darum, dass mit der Hand auf Strukturen in der Außenwelt eingewirkt wird. Man sieht schon die Fokussierung auf die Außenwelt, denn es kommt weniger darauf an, wie die Hand aussieht, als darauf, was sie in der Welt bewirkt.
Für mich (jetzt ein Affe) ist eine Hantierung, die ein Artgenosse durchführt, ein Vorgang in der Außenwelt, der mit meiner eigenen Hirntätigkeit zunächst nichts zu tun hat. Er drängt sich als spontane visuelle Erregung herein, wie vieles andere auch aus der Außenwelt. Man erkennt jedoch an den Eigenschaften des Spiegelneuron-Systems, dass dieser Typ von Erregungen meine eigene Manipulationstätigkeit anwerfen würde. Ich verhindere das, weil die sonstige neuronale Sachlage nicht dazu passt.
Mit den Affen wurde eine stammesgeschichtliche Neu-Entwicklung ausgelöst: Meine Hände sind so etwas wie die Hände eines Artgenossen (das soll man nicht andersherum lesen !). Dann gilt das auch für meine Hände, die einen Apfel halten, und dann auch für einen Apfel. Damit wird die Geschichte zu einer Neuorganisation der neuronalen Erregungen, die ich oben als "spontan" bezeichnet hatte. Es ist eine saubere Abtrennung dessen, was man als Mensch "Außenwelt" nennt, von den Erregungsanteilen, die mit den inneren Konsequenzen dieser Erregungen in meinem Inneren (vor allem eigene Aktionen) zu tun haben. Erstmals in der Entwicklungsgeschichte ist die Erkenntnis entstanden, dass das erkennende Lebewesen, von innen gesehen, zugehörige Hände und einen Körper hat, die der Außenwelt angehören und somit vergleichbar sind mit Händen und Körpern der Artgenossen. Diese neue Aufteilung musste außerhalb meiner traditionellen Prozeduren geschehen, die weiterhin, wie bei jedem gewöhnlichen Tier, für die Bearbeitung eigener Tätigkeiten ganz andere sind als wenn ich die gleiche Tätigkeit beim Kollegen sehe.
Hier ist erneut der Hinweis erforderlich, dass mit "Erkenntnis" bzw. "erkennen" kein inhaltliches Aufscheinen eines Sachverhalts gemeint ist, sondern nur, dass die Neurone ihre Verarbeitungen entsprechend der neuen Aufteilung vollziehen. Das Lebewesen "weiß" nicht, dass sie das tun.
All dieses kann ein eher rundliches "gewöhnliches Tier" wie eine Ratte oder ein Rotkehlchen nicht bieten. Der starke Ausbau des "Fern"-Sinns des Sehens reicht dafür nicht aus. Bei ihnen bleibt es allein bei den Verhaltensprozeduren.
Was können denn die Affen nun anfangen mit dieser Neuentwicklung? Zunächst könnte man meinen, dass Affen gut imitieren können sollten. Es gibt sogar den Ausdruck "nachäffen". Ein Affe sollte also eine Handlungsprozedur anwerfen, die durch den Anblick einer Tätigkeit eines Kollegen ausgelöst wird. Wenn man aber an die Roboter-Steuerungs-Chaos-Geschichte denkt, sollte ja genau das nicht möglich sein. In der Tat sind die Affen (zB. Makaken), bei denen man Spiegelneurone findet, so gut wie gar nicht zu Imitationen fähig. Auch darf man nicht übersehen, dass ein Mensch beim Stichwort "Imitieren" die Vorstellung hat, dass man sich eine Handlung erst anschaut, und diese dann mit einer Verzögerung selbst vollzieht. Dazu müsste das Gesehene gespeichert werden, und zwar müsste man verlangen, dass ein Ensemble von ausschließlich visuellen Signalen eine prozedurale Speicherung bewirkt. Das müsste auch erst mal erfunden werden. Aber auf den Punkt werde ich später in einem anderen Hirnbrief zurückkommen.
Wozu könnte denn sonst diese Neuentwicklung dienen? Als Mensch kann man die Situation am besten verstehen anhand des folgenden Beispiels: Man kann sich vorstellen, dass man nach jahrelanger Übung sich die Schuhe mit Schnürsenkeln zubinden kann, indem man eine Schleife bindet. Man wäre durchaus imstande, sich während dieser Tätigkeit mit jemandem zu unterhalten, so dass sich das Schleifebinden völlig unbewusst vollzieht. Genau so (natürlich ohne diese Unterhaltung) lebt das "gewöhnliche Tier", und zwar immer. Alle Tätigkeiten und alles Gesehene und Gefühlte ist unbewusst, und zwar grundsätzlich. Es gibt kein Bewusstsein. Dennoch kann das Gehirn einem Tier erstaunliche Fähigkeiten verleihen. Oftmals wird diese Betriebsweise eines Gehirns als "automatisch" bezeichnet, wobei die enorme Lernfähigkeit nicht beachtet wird.
Es fehlt ein Gedanke, was ich denn mit einem Schnürsenkel sonst noch machen kann. Wenn ich keine Prozedur für einen weiteren Zweck habe, gibt es keine Antwort auf eine solche Frage. Darauf kann auch ein Mensch unbewusst keine irgendwie erkennbar gemachte Antwort geben. (Wohlgemerkt müsste man sich dazu vorstellen, dass der schleifenbindende Mensch zuvor sich niemals bewusst mit einem Schnürsenkel befasst hat.) Als Tier kenne ich die Welt eben nur über meine Wechselwirkungen mit ihr. Die puren Eigenschaften eines Schnürsenkels gehören nicht dazu. Diese stellen die Gesamtheit aller Prozeduren dar, die es mit Hilfe von Schnürsenkeln geben könnte, etwa u. a. eine Wurst mit Hilfe eines Schnürsenkels im Räucherkamin aufhängen. Für einen Affen ist das Erlernen einer neuen Prozedur dafür enorm vereinfacht. Ein "gewöhnliches Tier" könnte nur mühselig durch Zufall eventuell darauf kommen.
Hier wird der Nutzen des Entwicklungsschritts deutlich: Den Affen eröffnet sich ein Spektrum von Prozeduren, die sie entwickeln können, indem sie einzelne Eigenschaften von Gegenständen oder Materialien erkennen, unabhängig davon, was man damit zu machen erlernt hat. Diese können dann in neue Prozeduren eingebaut werden. So ist das allseits bekannte umfangreiche Verhaltensrepertoire der Affen entstanden. Schlichte Begründungen wie etwa, dass das Leben auf Bäumen besondere Anforderungen stellt, reichen dafür nicht aus.
Man sieht das Interesse der Affen an der Erkundung von Eigenschaften, wenn man beispielsweise beobachtet, wie ein Affe eine lebende Heuschrecke langwierig untersucht und "auseinandernimmt", obwohl sie für ihn kein Futter ist. Auf einen Menschen wirkt diese Aktivität so, wie wenn man einem Uhrmacher bei der Arbeit zuschaut.
Vielleicht ist es nützlich, einen Blick auf mögliche Entwicklungslinien in anderen Lebewesen zu werfen. Denkbar wäre, dass auch Elefanten und Tintenfische für visuelle Spiegelneurone "nach Affen-Art" in Frage kommen, denn im Prinzip könnten sie ihre eigenen "Manipulationen" mit dem Rüssel bzw. den Armen sehen, und erkennen, dass sie denen der Artgenossen ähneln. Ob so etwas tatsächlich in der Evolution entsteht, hängt allerdings von vielen weiteren Faktoren ab. Auch würde die Prüfung der Idee, dass Tintenfische sozusagen die Affen der Weltmeere sind, enorme Schwierigkeiten bereiten.
Es gibt jedoch auch noch den Fern-Sinn des Hörens. Auch über diesen kann man bedeutsame Signale von sich selbst ebenso bekommen wie von einem Artgenossen. Ein Lebewesen kann leicht Geräusche erzeugen, die es selbst ebensogut wie ein Artgenosse hört, und als ähnlich erkennt. Das können Trittgeräusche sein, Rascheln, wenn man sich durch Gesträuch drängelt, aber auch extra produzierte Stimmgeräusche. Man ist nicht allzu verwundert, dass man bei Vögeln entsprechende Hör-Spiegelneurone findet. Allerdings ist der große Unterschied zu Affen, dass eine bestimmte Tonfolge, die ein Vogel mit seiner Atem-Motorik erzeugt, in der sonstigen Welt nichts beeinflusst. Nur im Nervensystem von anderen Lebewesen, vor allem von Artgenossen, können solche Schallsignale etwas bewirken. Geräusche bei der Fortbewegung oder beim Fressen sind sicherlich von Interesse, wenn man sie von einem Artgenossen hört, aber mit den entsprechenden eigenen Geräuschen, auch wenn sie sehr ähnlich sind, kann man vermutlich nicht viel anfangen: Wenn ich laufe, brauche ich normalerweise keine Analyse meiner eigenen Trittgeräusche, es sei denn, ich will absichtlich leise gehen. Hingegen die Trittgeräusche des herankommenden Einbrechers sind von großem Interesse.
Vom Geruchssinn will ich hier nicht reden.
Überhaupt wird den Affen Unrecht getan, was ihre Rolle in der Entwicklungslinie zum Menschen betrifft. Freilich wird immer wieder gepredigt, dass man nicht "der Mensch stammt vom Affen ab" sagen soll, sondern dass es vor einigen Millionen Jahren gemeinsame Primaten-Vorfahren gab, von denen sich einige Linien zu heutigen Affen, andere zu Menschen entwickelt haben. Schon als Schulkind hatte ich gelernt, dass das aufrechte Gehen und damit die Befreiung der Hände von Fortbewegungs-Aufgaben entscheidend war für die Entwicklung zum Menschen. Das ist ganz offensichtlicher Quatsch, weil es schon für die Affen gilt. Es fällt demselben Schulkind nicht schwer, zu erkennen, dass es vom Affen zum Menschen einen gewaltigen weiteren Schritt geben muss.
Immerhin deutet alles darauf hin, dass es Spiegelneurone "nach Affen-Art" auch beim Menschen gibt, also vermutlich auch bei diesen gemeinsamen Vorfahren. Allerdings ist es naiv, den zugrundliegenden neuronalen Mechanismus nur herzunehmen, um damit die Fähigkeit des Einfühlungsvermögens, oder der Empathie zu begründen. Wenn ein anderer Mensch Schmerzen erleidet, kann ich davon betroffen sein, muss dazu jedoch nicht zwangsläufig heranziehen, dass seine Empfindung der meinigen entspricht.
Wer interessiert ist am weiteren gedanklichen Verlauf, sollte zunächst den Hirnbrief 2 (2015) "Unterbrechung 4" lesen, dessen Inhalte allerdings teilweise ergänzt bzw. abgeändert werden müssen. Im Hirnbrief 1;2022 "Zwei Gedankenstränge" hatte ich schon dargelegt, wo es klemmt. Mal sehen, ob ich demnächst Licht in einen weiteren Schritt bringen kann.