letzte Änderung dieser Webseite : 13. Juli 2025
Der Hirnbrief 3, 2025
Raum2
Es gibt noch Weiteres zu sagen zum vorigen Hirnbrief 2;2025 "Raum", nämlich wie man wegkommt vom einfachen Raumkonzept eines "gewöhnlichen Tieres", das nur auf die Stelle zentriert ist, an der das Tier sich befindet.
Zuallererst muss erneut daran erinnert werden, "wie es (scheinbar) ist", wenn ich mich mit meinem Gehirn befasse. Dazu ist schon etwas im Hirnbrief 21; 2009 gesagt worden. Ich sitze wie in einem Uboot und sehe nichts von der Welt. Nur eine Tafel von flimmernden Lichtchen habe ich vor mir, die die Aktivität aller meiner Sinneseingänge anzeigt. Diese erscheinen mir als Spontanaktivität; dass diese etwas mit einer "Außenwelt" zu tun hat, ist nicht ersichtlich; es gibt nur diese Lämpchen, die keinerlei Vorstellung liefern, was denn "außen" bedeuten könne. Es gibt noch eine weitere Tafel, bestückt mit Druckknöpfen, mit denen ich Bewegungen auslöse. Darüberhinaus zeigt eine riesige Flut von getrennt gehaltenen Lämpchen allerlei innere neuronale Aktivität an.
Diese Beschreibung ist natürlich insofern widersprüchlich, weil ja in der Aussage "ich sitze in einem Uboot" dieses "ich" sowohl ein Beobachter ist, als auch ein Teil der beobachteten Hirnaktivität. Das ist eine Vorstellung, die das Bewusstsein bereitstellt. Da gelten Sinnessignale als "zu mir hereinkommend" und motorische Signale als "von mir hinausgeschickt werdend". "Ich" sitze sozusagen in der Mitte dazwischen. Was "außen" heißt, ist dabei schon eingebaut. Es ist eine Perspektive, die mir erlaubt, aus einer Art Vogelschau von einem meiner neuronalen Prozesse festzustellen, dass er stattfindet, und dass eine Art "ich" die Rolle dieses Vogels spielt.
Wenn man neurowissenschaftlich argumentiert, muss man ohne dieses "ich" zurechtkommen, also alle Erregungs- und Lernvorgänge direkt miteinander in Zusammenhang bringen. Wenn ich (ein gewöhnliches Tier) laufe, dann erscheint zwar in meinen Sinnesneuronen eine bestimmte Art von weitverteiltem Flimmermuster, deren "vorbeiziehende" Natur meine neuronalen Prozeduren durchaus erkennen, aber dass es eine Gesamtheit "mein Körper" gibt, ähnlich einem Gegenstand (d.h. einer Riesenmenge von Molekülen, die lange Zeit beisammenbleiben), der sich durch eine Welt bewegt, das zu erkennen ist nicht möglich. Ich kann dieses "Vorbeiziehen" sehr wohl so steuern, dass sich dabei mein sehr gutes Orientierungsvermögen ergibt, was für mich aber nur heißt, dass ich damit bestimmte Sinneseindrücke systematisch herbeiführen kann, nämlich beispielsweise, wo ich Möhren finde.
Im vorigen Hirnbrief hatte ich erwähnt, dass man sich die Arbeitsweise dieses Verfahrens ungefähr vorstellen kann am Beispiel, dass man völlig in Gedanken versunken den vertrauten Weg zur Arbeitsstätte geht: Dazu ist es auf jeden Fall erforderlich, dass die Häuser am Wegesrand für mich sichtbar sind. Aber diese Art des Sehens kann ich nicht einsetzen, um Eigenschaften eines bestimmten Hauses zu erkennen.
Im Hirnbrief 3;2017 hatte ich drei Varianten des Sehens unterschieden: Dieses war die erste Variante. Mit ihr gehe ich vertraute Wege und orientiere mich im Raum. Sie funktioniert ohne Bewusstsein und hat zu tun mit visueller Steuerung von Bewegungen.
Die zweite Variante war das "Anschauen". Sie entspricht der Vorstellung, die ein Laie vom Sehen hat. Es handelt sich um denjenigen Typ von Sehen, der mir ein Blickziel völlig unvoreingenommen in Form einer Wahrnehmung darbietet, woraufhin ich mich daranmache, dessen visuelle Details zu ermitteln.
Die dritte Variante war eigentlich nichts weiter als eine Beschreibung der Spuren, die die erste Variante im menschlichen Bewusstsein dennoch hinterlässt, d.h. was ich unter diesen Umständen wahrnehme. Dabei sind dreierlei Besonderheiten zu nennen: 1. Mein ganzes Gesichtsfeld ist den ganzen Tag lang immer ausgefüllt; 2. meine Blickrichtung spielt nur bei größeren Körperbewegungen eine Rolle, nicht aber kurzzeitig bei normalerweise mehrmals pro Sekunde veränderter Blickrichtung; 3. die unter diesen Umständen aufscheinende Wahrnehmung deckt zwar das ganze Gesichtsfeld ab, aber nur wenige Details werden für die Steuerung der Motorik herangezogen. Welche Details das sind, ist nicht allzu klar. Wenn ich auf eine Treppenstufe steige, werden die optisch scharf abgebildeten Materialeigenschaften der Stufe für die Steuerung nicht genutzt, sondern im Wesentlichen nur die Stufenhöhe und -lage und die Entfernung zu meinem Fuß.
Ich (ein gewöhnliches Tier) komme mit der ersten Variante gut zurecht; sie liefert alles, was ich brauche. Was ein Wissenschaftler "Außenwelt" nennen würde, gibt es in dieser Form nicht. Stattdessen gilt für mich "Es gibt unterschiedliche sensorische Szenen", und "Ich kann mit bestimmten Neuronen (nämlich den Motorneuronen) in systematischer Weise auswählen, welche sensorische Szene sich mir präsentiert". Dass ich diese Sichtweise habe, weiß ich jedoch nicht, aber meine Neurone arbeiten in dieser Weise. Und ich kann nicht erfassen, dass ich selbst ein Lebewesen bin, das Eigenschaften eines Gegenstands hat und sich in einer Umwelt bewegt.
Die letztere Sichtweise hängt mit der Idee des Unikums zusammen (siehe Hirnbriefe 27;2009 und 3;2020). Es ist aber auch bemerkenswert, dass die im Bewusstsein des Menschen aufscheinende Ich-Empfindung teilweise diese Sichtweise widerspiegelt: Sie erstreckt sich nur zwischen Geburt und Tod und gilt nur für mich als Unikum (d.h. ich kann nicht "ich" auf andere Lebewesen anwenden). So ist es auch für die neuronale Innenperspektive des gewöhnlichen Tieres. Hingegen in der naturwissenschaftlichen Perspektive gibt es weder Beginn noch Ende (siehe Hirnbrief 1;2014): Moleküle, die schon vorher existierten, werden durch den biologischen Vorgang der Geburt aus verschiedensten Quellen zu einem Lebewesen zusammengeholt und dabei ggf. auch abgeändert. Ab welchem Moment diese Zusammenhäufung als Lebewesen gilt, ist eine Bedeutungszuweisung durch das Bewusstsein.
Bis hier hin ging es hauptsächlich um das gewöhnliche Tier. Nun zur Entwicklungslinie der Primaten, deren Besonderheiten die andersartige Nutzung der Körperglieder und ein verstärkter Ausbau des Sehens sind. "Sehen" ist, neuronal gesehen, grundsätzlich von der Art der o.g. Variante 1: In Prozeduren ist zusammengefasst, wie man motorisch etwas herbeiführt, was die Sinne dabei erkennen, und was man daraufhin tut. Es kommt nur darauf an, welche Möglichkeiten sich für die jeweilige Tierart daraus ergeben. Für die Affen ist es zweierlei: Zum einen wird nicht mehr mit Maul oder Schnabel gebissen, gepickt oder gezerrt, sondern mit den Händen "hantiert". Zum anderen sind die Augennetzhäute mit einer Stelle des schärfsten Sehens ("Fovea") ausgestattet, an der die neuronale Verarbeitung des Netzhautbildes besonders leistungsfähig ist. Entsprechend dazu werden die Prozeduren, die die Blickrichtung steuern, erheblich ausgebaut, um unter allen Umständen auch kleinere oder fernliegende Blickziele genau in den Netzhautbereich der Fovea zu bringen.
Wegen der vielfältigen Möglichkeiten, die sowohl die Hantierung mit den Händen als auch die neuartige Rolle der Blickrichtung bieten, erwies es sich als besser, Anblicke und zugehörige Handlungen nicht mehr als gemeinsame Prozeduren beizubehalten(oder zumindest diese zurückzudrängen), sondern Anblick-Sammlungen und Handlungs-Sammlungen getrennt anzulegen, und mit Extraprozeduren je nach Anforderung zu regeln, welches Anblick-Element mit welchem Handlungs-Element bearbeitet werden soll. Das ist schon so ungefähr der Schritt zur o.g. Variante 2 des Sehens. Auch ahnt man schon, angesichts einer solchen Aufteilung, dass zwischen diesen beiden Sammlungen einmal ein "Ich" angesiedelt werden soll, das der Herr über diese Anforderungen wird.
Die Raumorientierung eines gewöhnlichen Tieres besteht aus einem einzigen räumlichen Bezugspunkt (B-Punkt; dem Ort des Tieres), und einem Ensemble von (Bein-)Motorik und visuellen Rundum-Eindrücken, das sich in systematischer Weise verändert, wenn das Tier sich fortbewegt. Dieser Bezugspunkt wird nun bei den Affen aufgeteilt, und ein Teil wird von der Blickrichtung übernommen. Damit wird das natürlich eine ganz andere Geschichte. Statt der zweigliedrigen Beziehung "B-Punkt / Elemente der Welt" entsteht jetzt die dreigliedrige Beziehung "B-Punkt1 (Ort meines Körpers) / B-Punkt2 (Blickziel) / Elemente der Welt".
Die Affen sind sozusagen schon geübt im Umgang mit einer solchen Weiterentwicklung von zwei auf drei, denn im Hirnbrief 3;2022 hatte ich geschrieben: "... dann bewegt sie ihren Schnabel oder ihr Maul dort hin. Dabei kommen die Augen sogleich mit heran, weil sie gemeinsam mit Maul oder Schnabel im Kopf festsitzen. Das Tier muss sich mehr oder weniger um nur zwei Koordinatensätze kümmern, nämlich 'wo ist das Objekt' und 'wo ist mein Kopf mitsamt Augen, aber auch mitsamt Maul oder Schnabel'. Affen müssen sich hingegen mit drei Koordinatensätzen befassen, nämlich 'wo ist das Objekt', 'wo sind meine Augen' und 'wo ist meine Hand'."
Als Affe kann ich nun also nicht nur eine Prozedur "B-Punkt1 / ein Apfel" verfolgen, um an den Apfel zu kommen, sondern ich kann auch eine Prozedur "B-Punkt2 / ein Apfel" bilden ("wie komme ich von B-Punkt2 zu dem Apfel"). Von besonderem Interesse ist, wenn ein Artgenosse den B-Punkt2 bildet, indem ich meinen Blick auf ihn richte. Dann kommt die Spiegelneuron-Geschichte (Hirnbrief 1;2025) ins Spiel: "Die Regeln, die für einen Artgenossen gelten, gelten auch für mich" (aber nicht umgekehrt). Alles zusammengenommen liefert sie mir, wie der Genosse an den Apfel kommt, und das Besondere daran ist, dass auch ich an der Stelle des Genossen sein könnte.
Als Ergebnis dieser Entwicklungen habe ich nun ein Raumkonzept, das ungefähr dem des Menschen entspricht, aber über das Raumkonzept des gewöhnlichen Tieres hinausgeht. Es enthält folgende Punkte:
- Es gibt die Kategorie "Entfernung", die nicht nur zwischen mir und einem Objekt gilt, sondern auch zwischen Objekten untereinander.
- Diese Kategorie ist auch anwendbar auf räumliche Maße (Länge, Breite, Höhe) und dient damit zur Kennzeichnung von Objekten. Ich muss in Rechnung stellen, dass derselbe Gegenstand in größerer Entfernung kleiner erscheint, und wie ein gedrehter Gegenstand verändert erscheint. Diese Kategorie wird sauber abgetrennt von anderen Objekteigenschaften wie Farbe, Gewicht, Geruch.
- Ich sehe nur zweidimensionale Vorderflächen. Ich erkenne jedoch die Dreidimensionalität des Raumes. Das Sehen und Erkennen eines Apfels umfasst nicht nur den momentanen Anblick von vorn, sondern auch, dass dieser ein Volumen hat, und wie er ungefähr von hinten aussieht, wenn ich ihn herumdrehe, oder um ihn herumgehe. Normalerweise muss ich die meisten Gegenstände nicht herumdrehen, um sie richtig zu erfassen.
- Das ganze Konzept ist so eingerichtet, dass es mit der Motoriksteuerung meiner Gliedmaßen zusammenpasst; wenn ich sehe, dass ein Gegenstand näher liegt, muss ich den Arm weniger weit ausstrecken.
- All dieses ergibt ein Raumkonzept, das weitgehend dem des Menschen entspricht. Mein Nervensystem arbeitet sehr wohl nach diesem Konzept, aber ohne Bewusstsein weiß ich davon nichts. Gegenstände und auch Artgenossen sind entfernt voneinander in einer räumlichen Welt angeordnet. Da ich denselben Anblick biete wie ein Artgenosse, habe auch ich einen räumlich definierten Platz in einer Welt. An Hand meiner Ähnlichkeit mit einem Artgenossen erkenne ich, dass diese Welt auch mich umgibt, also außerhalb von mir erscheint. Diese Aussage betrifft den begrenzten Anblick (d.h. die in mir ausgelösten neuronalen Signale), den meine Hände und andere Körperteile mir von mir selbst bieten, nicht aber sonstige in meinem Inneren brodelnde neuronalen Signale.
Die biologische Materie, die diesen Anblick bietet, ist bei den Philosophen der "Körper", oder der "Leib", während diese Denker vielleicht dazu neigen würden, "Seele" und "Geist" eher in jenem inneren neuronalen Gebrodel zu suchen. Vorsicht ist jedoch geboten, weil auch diese Signale vielleicht doch einer Idee vom Körper zuzurechnen wären, Seele oder Geist hingegen in den Bereich des Bewusstseins gehören, der sich überhaupt nicht in dieser materiellen Weise erfassen lässt, weil er, wie ich vermute (aber bislang nicht klar darlegen kann) zustande kommt durch einen gedanklichen Kreisverkehr. Dieser besteht daraus, dass bestimmte Arbeitsprinzipien des Gehirns zum Einsatz gebracht werden, um eben genau diese Arbeitsprinzipien zu verstehen. Darüberhinaus ist es schon genügend schwierig, den Begriff "verstehen" zu verstehen, denn er erscheint wie eine gedankliche Versickerungsgrube ohne Konsequenzen.
Immerhin, um ein Raumkonzept, wie der Mensch es hat, zu entwickeln, scheint es notwendig zu sein, die Ähnlichkeit des eigenen Körpers mit dem eines Artgenossen zu erkennen.
Schon im vorigen Hirnbrief habe ich vermieden, von "Zeit" zu reden. Für die Physiker ist es ein Graus, "Raum" anzusprechen ohne die "Zeit" zu erwähnen, aber die wollen ja nicht ins Gehirn schauen. Ich hingegen schleiche lauernd um das Stichwort "Zeit" herum.