letzte Änderung dieser Webseite : 14. Mai 2023
Der Hirnbrief 2, 2023
Unendlich langes Leben, immer wieder unterbrochen
Eine lebende Struktur, egal ob Pflanze oder Tier, könnte ja eigentlich unendlich lange leben, und sich dabei weiterentwickeln. So ist es aber nicht; alles Lebende stirbt irgendwann, sei es durch feindliche Einwirkung, die z.T. insofern einen systematischen Charakter haben kann, als manche Pflanzen oder Tiere regelmäßig von anderen gefressen werden. Der Tod kommt aber auch dann, wenn keine Einflüsse von außen den Organismus zerstören. Man führt das darauf zurück, dass ein großer Teil der Zellen im Organismus immer wieder erneuert werden muss, wofür Zellteilungen erforderlich sind, und für diese muss jedes Mal der genetische Kode ausgelesen und kopiert werden. Durch die Aneinanderreihung von Kopiervorgängen kommt es zunehmend zu Kopierfehlern, die irgendwann so zahlreich und einflussreich werden, dass der ganze Organismus nicht mehr lebensfähig ist. Letztlich kann man auch das Auftreten von Kopierfehlern als Einfluss "von außen" auffassen: Eine einzelne Bindung zwischen zwei Molekülen wird nicht richtig gebildet, aufgrund einer lokalen etwas zu hohen momentanen Temperatur im Rahmen des ohnehin ständig laufenden Temperaturgebrodels. Mit "von außen" meine ich hier, dass die Grenze einer Betriebsregel überschritten wurde, d.h. ein solcher Vorgang gehört nicht zu den Betriebsregeln.
Also gelangt die sehr komplexe regelhafte Aneinanderreihung von physiologischen Prozessen in einem lebenden Organismus irgendwann an einen Abbruch. Oder es passiert eine Zerstörung von außen. Der Natur ist das alles egal; sie macht einfach weiter mit den Zerfallsprodukten. Ich habe keine Antwort auf die Frage, wem das nicht egal ist. Vielmehr gehe ich hier davon aus, dass ein komplexer biologischer Organismus Wege finden muss, weiterzuleben. Oder es ist eben umgekehrt: weil manche Strukturen zufällig einen solchen Mechanismus gefunden haben, sind sie überhaupt nur bekannt als Kategorie in der Natur. Eine enorm komplexe Struktur, die nur 1 Millisekunde lang ein einziges Mal existiert, würde sich überhaupt nicht hervorheben unter Milliarden von ebenso komplexen, ebenso kurzlebigen, aber anderen Strukturen. Ohne einen speziellen Mechanismus für diesen Zweck ist die Wahrscheinlichkeit für das wiederholte Entstehen der (ungefähr) selben hochkomplexen Struktur quasi Null. "Leben" ragt heraus als etwas von langer Dauer, obwohl es ständig intensiv mit der Umgebung wechselwirkt. Freilich kann auch ein Fels tief in der Erde langlebig sein, aber nur, weil dieser das Risiko ständiger stofflicher Umsetzungen gar nicht erst eingeht.
Die Besonderheit "lange Dauer" des Lebens bedarf einer genaueren Betrachtung, weil es in der Natur eigentlich keinen solchen Begriff gibt. Vielmehr gibt es für die Natur in jedem Moment immer nur eben diesen Moment, und dass dieser mit einer unmittelbar stattfindenden Änderung (von irgendwas) zu tun hat. Es gibt keinen Überblick über längere Zeiten. Wenn sich über längere Zeiten nichts ändert, dann stellt die Natur das in jedem Moment neu fest, um es aber sofort danach sozusagen wieder zu vergessen. Alles, was nicht zum jeweiligen Moment gehört, existiert nicht. Deshalb gibt es keine Idee, wann eine Periode ohne Änderungen begonnen hat, und schon gar nicht, wie lange sie noch andauern könnte. Wenn das alles so ist, braucht man überhaupt keinen Zeitbegriff.
Es ist gewöhnungbedürftig, sich Naturvorgänge "aus der Sicht der Natur" vorzustellen. Deshalb muss ich zunächst zu der gewöhnlichen menschlichen Sichtweise zurückkehren, um zu überlegen, wie man weitermacht nach einem Abbruch. Man muss das Wesentliche für einen spätere Fortsetzung abspeichern, bevor es zum Abbruch kommt. Also zeugt man Kinder; der genetische Kode wird in dem Kind abgespeichert. Als Speicherinhalt überdauert er eine Unterbrechung durch den Tod, bis das Auslesen des Speichers die Fortsetzung des dynamischen Vorgangs (d.h.des Lebens, nun aber im Kinde) erlaubt. Obwohl es vielleicht trivial erscheint, muss man doch betonen, dass die Details, die man für eine solche Fortsetzung benötigt, nämlich die Daten im genetischen Kode, nicht in der Natur vorfindet. Vielmehr muss man sie mitbringen.
Die Natur hat Hunderte von Millionen Jahren, eher Milliarden, gebraucht, um dieses Verfahren zu entwickeln. Es erlaubt, im Laufe von vielen Generationen, d.h. nach vielen Unterbrechungen, die Abspeicherungen und damit den ganzen Organismus, allmählich zu verbessern, was in einem Einzelschritt, d.h. der Lebenszeit eines Individuums, nicht zu schaffen gewesen wäre. Eine neue Pflanzen- oder Tierart kann nicht in der Lebenszeit eines einzelnen Exemplars entstehen.
Und nun konnte auf dieser Grundlage, nachdem Gehirne bereits eine Rolle spielten, in nur 5 Millionen Jahren ein Verfahren entwickelt werden, in dem in gewisser Weise dieselben Prinzipien erneut zur Anwendung kamen: Es ist ein Verfahren, das erlaubt, im Gehirn laufende Prozeduren nach Unterbrechungen später wieder aufzugreifen und fortzusetzen, auch wenn in der Außenwelt keine Hinweise zu finden sind, wie man weitermachen muss. Darüber hatte ich schon in den Hirnbriefen 42/43;2009 und 2;2015 geschrieben. Manch einer mag die Rolle dieses Schrittes an sich selbst erfahren können, sofern sie oder er imstande ist, unter der Dusche den Körper völlig "automatisch", oder "absentminded", zu waschen (so etwas ist eine Prozedur), dabei aber lückenlos an ganz andere Dinge zu denken. Wenn dann in der Mitte dieser Tätigkeit das Telefon klingelt, und man nimmt das Gespräch an, dann kann man danach das Waschen nicht fortsetzen, weil man nicht weiß, bis wohin man gekommen war. Freilich ist klar: man hätte die erreichte Wasch-Etappe "episodisch" abspeichern müssen, als man das Telefon klingeln hörte. Nach der Unterbrechung hätte man den Speicherinhalt abgerufen und hätte mit dessen Hilfe den Waschvorgang fortgesetzt.
Dasselbe gilt für den Techniker, der die Räder von Eisenbahnwaggons prüft: Wenn er eine Pause macht und die Arbeitsstätte verlässt, kann er danach einem Rad nicht ansehen, ob er es schon geprüft hat. Er muss irgendein Merkmal abspeichern. Er braucht das jedoch nicht, wenn er hintereinander weg die Räder der Reihe nach prüft.
Von allerhöchster Wichtigkeit in diesem Zusammenhang ist der Umgang mit Unterbrechungen für die Entwicklung des Ackerbaus: Die Körner, die in den wärmeren Jahreszeiten in den Boden fallen, sind nach kurzer Zeit nicht mehr sichtbar, und von Unkraut überwuchert. Aber im nächsten Jahr entstehen dort Pflanzen, deren Körner für die Ernährung von Interesse sind. Das Besondere sind nicht diejenigen Körner, die im Herbst direkt von den Pflanzen herunterfallen, so dass im nächsten Jahr wieder dort diese Pflanzen wachsen. So etwas haben allerlei Tiere schon längst gemerkt. Hingegen ist der wichtige Fall, dass jemand die Körner ganz woanders hinträgt (und sie dort alsbald nicht mehr zu sehen sind), und dass dann dort ein halbes Jahr später die interessierenden Pflanzen wachsen. Diese Situation kann man nur dann systematisch nutzen, wenn man sich daran erinnert, dass, und wohin man die Samen im vergangenen Jahr verschleppt hat.
Besitzt man kein Verfahren für eine episodische Abspeicherung, dann sind alle einmal unterbrochenen Prozeduren für immer beendet, sofern sich in der Außenwelt keine Hinweise finden, was als nächstes zu tun ist. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass Tiere kein episodisches Gedächtnis anlegen können (siehe Hirnbrief 1;2023), allein schon wegen der Gefahr, die Inhalte mit realen Situationen in der Welt zu verwechseln, eben weil gerade diese Inhalte gedacht sind als Ersatz für fehlende Außenweltsignale. Dass Tiere ein gutes Gedächtnis haben, braucht man deshalb nicht anzuzweifeln, aber sie brauchen eine Außenweltvorgabe, um daran einen bestimmten Sachverhalt wiederzuerkennen. Der Affe kann sich nicht, durch einen Abruf aus einem episodischen Gedächtnis, an den boshaften Zoobesucher erinnern, um sich einen Racheakt zu überlegen. Aber sobald dieser erneut auftaucht, kann er ihn zwischen sehr vielen anderen Personen wiedererkennen, und ihm sogleich eine gut gezielte Ladung Fäkalien ins Gesicht schleudern.
Die Geschichte "vom Affen zum Menschen" verläuft noch über einen Zwischenschritt (siehe Hirnbrief 3;2020), der mit einer weiteren Rolle der Hände zu tun hat, und der erklärt, warum gerade die Affen, und nicht die vielgepriesenen Raben, Vorläufer der Intelligenzbombe "Mensch" geworden sind. Diesen Schritt überspringe ich hier. Die wesentliche Aussage ist, dass die großen Intelligenzleistungen des Menschen nicht zustandegekommen sind durch irgendwelche extra entwickelten Höchstleistungsprozeduren, sondern durch die Einrichtung des episodischen Gedächtnisses, das erlaubte, unterbrochene Prozeduren später fortzusetzen. Dadurch war der Weg frei für quasi unendlich langdauernde Prozeduren, mit denen natürlich sehr viel komplexere Probleme bearbeitet werden können als mit Prozeduren, die nur so lange laufen können, bis das nächstbeste absolut dringende Ereignis einen Abbruch erzwingt. Umgekehrt erlaubt das neue Verfahren, den Bewegungsbeginn eines aus meiner Hand herunterfallenden Klotzes als "aus dem Nichts" entstanden anzusehen, d.h. ohne die vorausgegangene Lockerung der Handmuskeln in Betracht zu ziehen. Dann muss man allerdings einen Zeitpunkt benennen (die Naturwissenschaft benutzt dafür "Anfangsbedingungen"). Das kann die Natur nicht; für die Natur ist alles die Folge dessen, was unmittelbar davor passierte.
Irgendwie hängt genau dieser Entwicklungsschritt zum Menschen auch mit der Entstehung des Bewusstseins zusammen, aber bis hierhin kann die Geschichte auch einleuchten, wenn man nur neuronale Vorgänge auf rein naturwissenschaftlicher Grundlage, ohne Bewusstsein, betrachtet.
Vertrackt ist allerdings, dass man genau das Bewusstsein braucht, um diese Betrachtung überhaupt anzustellen. Das Bewusstsein schließt die Naturwissenschaft mit ein; man kann nicht unbewusst Naturwissenschaft betreiben. Auch der obige Textteil über das neuronale Unterbrechungs-Management müsste eigentlich aus der "Sicht der Natur" geschrieben werden. Dabei wäre dann der abgerufene Inhalt eines episodischen Gedächtnisses zwar eine neuronal zum Einsatz kommende, nützliche Erregungsverteilung, die aber keinerlei Bedeutung trüge; von "Vergangenheit" wäre nicht die Rede.
Es musste also im Lauf von Millionen oder Milliarden von Jahren erst das Leben, dann das Gehirn und dann das Bewusstsein mit seiner Fähigkeit, "zu erkennen", entstehen, um in einem gedanklichen Kreisverkehr genau diesen Verlauf zu erkennen. Nun betone ich ja in meinen Hirnbriefen, dass der Zeitbegriff eine der Bedeutungen ist, die das Bewusstsein bereitstellt, andererseits das Bewusstsein zustandekommt durch die Fähigkeit, unterbrochene Prozeduren fortzusetzen. Wohlgemerkt kann man diese Zusammenhänge nicht wirklich verstehen. Aber wenn das schon so ist, dann könnte der Zeitbegriff ebensogut eingeschleppt worden sein durch den anderen mit Unterbrechungen befassten Prozess-Typ, nämlich das Leben.