Jürgen Krüger
Hirnforschung

 

 

letzte Änderung dieser Webseite : 14. Jan. 2023


Der Hirnbrief 1, 2023

Wissen und Lernen, Mensch und Tier
Wenn ich sage "ich weiß etwas", dann ist damit ein phänomenaler Gehalt gemeint, der in meinem Bewusstsein "aufscheint", und zwar ist es in der Regel eine Kenntnis, die ich im Moment dieser Aussage gar nicht "in echt" zu einem nutzbringenden Einsatz bringe.

Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist das anders, wenn man von einem Tier sagt, dass es etwas wisse. Dann erschließt man das aus seinem (objektiv, d.h. von mehreren Personen feststellbaren) Verhalten, oder neuerdings vielleicht sogar durch Analysen von physiologischen Hirnprozessen. Über phänomenale Gehalte kann man nichts sagen, denn diese kennt man nur von sich selbst. Nebenbemerkung: Noch nicht einmal von anderen Menschen kann ich beweisen, dass sie phänomenale Gehalte, d.h. ein Bewusstsein, haben, oder genauer, dass phänomenale Gehalte in ihnen "aufscheinen". Dennoch wird zumeist angenommen, dass jeder Mensch ein Bewusstsein habe, einfach nur, weil viele andere Eigenschaften bei mir und bei allen anderen Menschen gleichermaßen objektiv feststellbar sind. Gerade das ist jedoch für das Bewusstsein nicht möglich.

Neulich habe ich eine merkwürdige Zange gesehen, von der ich nicht wusste, wozu sie dient. Später gab mir jemand dazu die Erklärung. Das war also ein Lernvorgang. Von diesem konnte ich sagen, dass er bestenfalls eine Minute gedauert hatte. Hingegen das daraufhin entstandene Wissen über die Funktion dieser Zange hatte, vom Moment der Erklärung an, nahezu einen Ewigkeitscharakter: Auch nach vielen Monaten oder Jahren wusste ich noch, wozu eine solche Zange benutzt wird. Wie schon gesagt, ist dieses Wissen ein phänomenaler Gehalt. In einem Moment, zu dem mir klar wird, dass ich dieses Wissen habe, findet zumeist keine tatsächliche Anwendung dieser Kenntnis statt. Der Zeitverlauf von "Wissen" erstreckt sich also über sehr lange Zeiten, hingegen das Lernen, auch wenn es mehrere Wiederholungen benötigt, nimmt viel weniger Zeit in Anspruch.

Wenn ich schon von einem Mitmenschen nicht beweisen kann, dass er ein Bewusstsein hat, dann erst recht nicht von einem Tier. Eindeutig ist hingegen, dass ein Tier etwas lernen kann.
Tier und Mensch benutzen gleichermaßen einen Lernvorgang im Gehirn, den ich (im Gegensatz zu den Vorstellungen der meisten Leute) den "gewöhnlichen" nennen möchte: Zu einem Zeitpunkt liegt im Gehirn eine bestimmte neuronale Vernetzung vor. Diese kann sich in vielfältiger Weise entwickeln durch die individuelle Veränderung der Leistungsfähigkeit der Signalübertragung an einer jeden Kontaktstelle (Synapse) zwischen Neuronen. (Bei Wasserrohren entspräche dem ein veränderlicher Rohrdurchmesser). Diese Veränderungen umfassen auch die Neu-Entstehung (Durchmesser von Null an sich vergrößernd) oder auch die vollständige Unterbrechung (Durchmesser wird zu Null) von Kontaktstellen. Auch kann es kompliziertere Wechselwirkungen geben, weil jedes Neuron sehr viele Kontakte hat, und Signale, die über eine Gruppe von Synapsen in ein Neuron fließen, zur Folge haben können, dass andere Signale, die dasselbe Neuron über andere Synapsen erreichen, in ihrer Wirksamkeit verstärkt oder geschwächt werden.

Ein Lernvorgang passiert dann, wenn ein Schwall neuronaler Signale (beispielsweise von den Sinnesorganen) auf ein zugehöriges neuronales Netzwerk trifft, und besonders viele, oder besonders starke Erregungen in diesem Netzwerk ausgelöst werden. Nicht alle Details gebe ich hier wieder, aber das Wesentliche ist: Wenn an einer einzelnen Synapse der Fall eintritt, dass sowohl das ankommende Signal vor der Synapse als auch das Signal im empfangenden Neuron hinter der Synapse besonders stark ist (wobei letzteres über andere Synapsen des empfangenden Neurons hereingekommen sein kann), so wird die Leistungsfähigkeit der Signalübertragung der betreffenden Synapse verstärkt. Das ist die eigentliche Gedächtnisbildung. Dadurch kann beim nächsten ähnlichen Fall allein schon das Signal vor der Synapse ein stärkeres Signal hinter der Synapse auslösen als zuvor. Wie es mit Hilfe dieses Verfahrens zu einer Gesamtleistung eines größeren neuronalen Netzwerks kommt, kann hier nicht im Detail erklärt werden. Jedenfalls, was ein neuronales Netzwerk "erkennt", ist gegeben durch die gesamte Verteilung seiner Signalübertragungs-Leistungsfähigkeiten. Wenn ein Schwall von Signalen kommt, der besonders gut passt zu dieser Verteilung, dann wird der Schwall "erkannt". Die Aufgabe eines jeden neuronalen Netzwerks ist, im Fall einer Erkennung ein für dieses Netzwerk typisches Ensemble von Ausgangssignalen zu produzieren, und dieses z.B. an bestimmte Muskeln (oder auch an andere Teilnetzwerke des Gehirns) zu senden. Das Ganze ergibt dann eine "Prozedur", z.B. "Suppe mit dem Löffel essen", die ich erlernt habe.

Im Grunde genommen ist die ganze Netzwerk-Verknüpfung ein Aufeinandertürmen von solchen Lernprozessen, beginnend nicht nur mit der Geburt, sondern ein Großteil des Gelernten wird seit der Entstehung der Tier-Art über viele Generationen als Erbe übernommen, so dass beispielsweise eine Maus sich so verhalten kann, wie sich Mäuse typischerweise verhalten.

Das Besondere ist, dass "das Gelernte" auch dann im neuronalen Netzwerk vorhanden ist, wenn gerade gar keine zugehörigen neuronalen Signale laufen. Sozusagen kann das Tier dann gar nicht erfahren, was sein Netzwerk alles kann. Erst wenn ein geeigneter Signalschwall kommt, kann man an dessen Schicksal beim Durchlaufen des Netzwerks erfahren, wozu das Netzwerk imstande ist. Das heißt aber auch, dass nur dann, wenn beispielsweise der Löffel und die Suppe auftauchen, man erfahren kann, was das Netzwerk in diesem Fall leisten kann. Mit anderen Worten: es gibt kein natürliches Verfahren, auch ohne Suppe und Löffel irgendwie herauszubekommen, ob das Netzwerk mit diesen Dingen umgehen kann. Mit noch anderen Worten: "die Welt" muss da sein, damit man mit ihr umgehen kann. Der Affe im Zoo kann den Besucher, der ihn am Vortag geärgert hat, beim nächsten Besuch wiedererkennen und ihm daraufhin eine Ladung Fäkalien ins Gesicht schleudern. Er kann sich jedoch nicht diesen Menschen vorstellen, d.h. sich an ihn "erinnern", um sich etwa eine Racheaktion zu überlegen. Der Affe "weiß" nicht, dass dieser Mensch existiert, so lange er ihn nicht sieht, obwohl in seinen Netzwerkkontakten die Möglichkeit von dessen Erkennung enthalten ist.

Das ist also das "gewöhnliche Lernen" und das "gewöhnliche" (in der Wissenschaft als "prozedural" bezeichnete) Gedächtnis, das man in jedem Gehirn von Mensch und Tier vorfindet. Ein Bewusstsein kommt dabei nicht vor; alles ist naturwissenschaftlich zumindest im Prinzip verständlich. Radfahren zu können ist ein Beispiel. (Man muss als Mensch die Tatsache, dass man weiß, dass man radfahren kann, nicht verwechseln mit der eigentlichen, erlernten, dem Bewusstsein unzugänglichen Fähigkeit, wie man das macht.) Eine weitere Besonderheit ist, wenn man etwas gelernt hat, dass dann die Netzwerkverknüpfungen in der vorigen "ungelernten" Version nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn man radfahren kann, dann kann man sich nicht mehr verhalten wie jemand, der das nicht kann und es erlernen will (wohlgemerkt in echt; nicht simuliert).

Die meisten Leute, wenn sie das Stichwort "Gedächtnis" hören, denken jedoch an "Erinnerung", d.h. ein vergangener Vorgang scheint im Bewusstsein auf. Sogleich bemerkt man, dass man sich nicht unbewusst an ein bestimmtes Ereignis erinnern kann. Im Gegenteil: Wenn man sich nicht erinnert, wo man den Autoschlüssel abgelegt hat, dann ist man der Ansicht, ihn unbewusst irgendwo hingelegt zu haben. Weiterhin: während ich meine Fähigkeit, mit Löffel und Suppe umzugehen, nur abrufen kann, nachdem Löffel und Suppe aufgetaucht sind, muss ich keinerlei echten gegenwärtigen Sinneskontakt zu den Türmen des Fridolinsmünsters in Säckingen haben, um, ausgelöst durch die Erzählung einer düsteren Geschichte, mich an diese Türme zu erinnern. Das mir zugängliche Ergebnis dieser Erinnerung ist nicht etwa eine bloße komplexe neuronale Erregungsverteilung in meinem Gehirn, sondern deren Bedeutung, nämlich eben jene eher bildhafte Darstellung der Türme, also ein phänomenaler Gehalt.

Eine weitere Besonderheit ist, dass das prozedurale Gedächtnis (nicht umsonst heißt es so) vor allem zeitliche Abläufe betrifft, die ungelernt sehr viel schlechter ablaufen würden als gelernt, während eine Erinnerung eher einen einzelnen Sachverhalt betrifft, bei dem der zeitliche Ablauf eine geringere Rolle spielt. Selbst wenn ich mich an den Nachbarn erinnere, als er im Hof mit der Axt Holz spaltete, dann ähnelt meine Erinnerung nicht einer Art Film dieser Tätigkeit, sondern eher einem Standfoto (oder vielleicht mehreren davon), auf dem der Nachbar in einer typischen momentanen Haltung, mit hoch geschwungener Axt, erscheint.

Man hat also zwei Sorten von Gedächtnis: Erstens das prozedurale, das ohne Bewusstsein arbeitet, das schwierige Aktionen durch Übung zu erlernen erlaubt, und das nur arbeiten kann, wenn die zugehörigen äußeren Umstände den Sinnesorganen tatsächlich zur Verfügung stehen. Es geht nicht, wenn man sich diese Umstände nur vorstellt; das Fahrrad muss in echt vorhanden sein, damit das prozedurale Gedächtnis des Radfahren-Könnens zur Anwendung kommen kann. In den meisten Fällen ist das Ergebnis eines Gedächtnisabrufs ein koordiniertes Ensemble von Muskelbewegungen, mit vielen sensorischen Rückmeldungen, wobei das Gedächtnis den Umgang mit diesen Rückmeldungen auch mit umfasst. Beispielsweise beim Radfahren kommen Rückmeldungen von den Gleichgewichtsorganen in den Ohren, die dann (in erlernter Weise) zu kleinen Korrekturen der Lenkerbewegung führen. Obwohl eine gegenwärtige Leistung von der Einübung in der Vergangenheit abhängt, besteht bei diesem Gedächtnistyp keine Möglichkeit, die Rolle von "Vergangenheit" irgendwie während des prozeduralen Gedächtnisabrufs auszunutzen. In jedem Moment ist ein prozeduraler Abruf ein rein gegenwärtiger Vorgang. Der Abruf "kennt" sozusagen nur die jeweils gegenwärtigen Umstände sowohl in der Außenwelt als auch im Nervensystem. (Wohlgemerkt ist hier nicht gemeint, dass man sich an die früheren Umstände des Erlernens des Radfahrens erinnert. An den eigentlichen prozeduralen Gedächtnisinhalt, d.h. "wie der Erfolg zustande kam", kann man sich in keiner Lernphase erinnern.)

Zweitens gibt es das (in der Wissenschaft als "episodisch" bezeichnete) Gedächtnis, mit dem man sich an vergangene Situationen erinnern kann. Wie dieser Typ von Gedächtnis neurotechnisch organisiert ist, wird hier nicht dargelegt, ist aber einer technischen Speicherung ähnlich. Man speichert in der Gegenwart eine kurzzeitige Erregungsverteilung in einem Synapsen-Netzwerk ab, und später, dann also auch wieder in der Gegenwart, ruft man diese wieder ab, indem man sie wieder in eine Erregungsverteilung umwandelt. Die Ergebnisse derartiger Erinnerungen erscheinen als phänomenale Gehalte im Bewusstsein. Um einen Gedächtnisinhalt abzurufen, braucht es bei diesem Typ von Gedächtnis nicht die Vorgabe von realen zugehörigen Umständen, mit denen das Nervensystem dann zu arbeiten beginnt, und die es bis hin zu einem Ergebnis weiterentwickelt. Vielmehr genügt ein kleines unscheinbares Signal, wie beispielsweise der momentane Geruch eines Industrie-Öls, der eine reichhaltige bildhafte Erinnerung an die Grundschule vor vielen Jahrzehnten auslöst, weil in dieser Schule die Dielen mit einem ebenso riechenden Öl behandelt worden waren. Auch "die Vergangenheit" wird mitgeliefert etwa in Form einer Jahres-Angabe. Es entfällt die Möglichkeit, über Muskelbewegungen wenigstens ein bisschen zu erfahren darüber, was das Nervensystem während des Vorgangs der Erinnerung tut, denn es finden keine Bewegungen statt.

Die reine Betrachtung von Erregungsvorgängen erlaubt bei keinem der beiden Gedächtnistypen, zu erkennen, welche Rolle die Vergangenheit für das Nervensystem spielt. Das prozedurale Gedächtnis "hangelt" sich kontinuierlich von Gegenwart zur unmittelbar darauffolgenden nächsten Gegenwart, ohne berücksichtigen zu müssen, was in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit passiert ist. Dass man per Bewusstsein über Zeitabläufe nachdenken kann, ist kein Teil der Mechanismen, die dem prozeduralen Gedächtnis zugrundeliegen. Beim episodischen Gedächtnis ist hingegen "Vergangenheit" ein erinnerter (phänomenaler) Inhalt, der irgendwie getragen wird von einem Speicherabruf, also einem gegenwärtigen Erregungsvorgang. Ohne die Zuweisung der Bedeutung "Vergangenheit" ist einer solchen Erregung nicht zu entnehmen, dass sie etwas mit Vergangenheit zu tun hat.

Wenn man nur neuronale Erregungen anschaut, dann sieht man, dass ein Nervensystem grundsätzlich seine gegenwärtigen Erregungen nicht irgendwie in einer Weise gestalten kann, dass diese "in der Vergangenheit stattfinden". Schon dieser Satz erscheint widersinnig. Andererseits: wenn es im Gehirn nichts weiter gibt als gegenwärtige neuronale Erregungen, woher kommt denn dann die Idee, dass es eine Vergangenheit gibt? Freilich gibt es Speicher. Aber dass ein Speicher Vergangenes enthält, ist nirgends ersichtlich.

Wenn ich über diese Dinge mit anderen Leute rede, durchaus auch mit wissenschaftlich Gebildeten, dann leuchtet ihnen der letzte Satz zunächst nicht ein: man könne ja ein Video gemacht haben, in dem Datum und Uhrzeit zu sehen sind, und damit ließe sich ja beweisen, welche vergangene Zeit zu einer bestimmten Erinnerung gehört. Allerdings müsste man dazu beweisen, dass dieses Video etwas Vergangenes zeigt, und man müsste beweisen, dass die Uhrzeigerstellung und Datums-Schriftzeichen etwas Vergangenes bedeuten. Man merkt erst, dass man einem Zirkelschluss aufsitzt, wenn man sich klar macht, dass man sich damit immer wieder auf andere Speicher und Bedeutungszuweisungen bezieht, die traditionell scheinbar einen unverrückbaren Zusammenhang zu "Vergangenheit" haben, der sich aber naturwissenschaftlich nicht feststellen lässt.

"Wissen" ist die Zuweisung von Bedeutungen (einschließlich der Bedeutung "Vergangenheit") zu einer aus einem neuronalen episodischen Speicher abgerufenen Erregung. Da derartige Zuweisungen keine der Naturwissenschaft angehörigen Beziehungen herstellen, hat das "Wissen", und damit die ganze Naturwissenschaft, kein naturwissenschaftliches Fundament. In diesem gedanklichen Kreisverkehr findet das Bewusstsein sein behagliches Nest, zur Erheiterung der Hirnforscher.

Dennoch hat die Naturwissenschaft es zustande gebracht, irgendwie "Vergangenheit", oder vielmehr ganz allgemein "die Zeit", in die Wissenschaft hineinzumogeln. Es funktioniert leidlich gut, wenn man keine Extremfälle untersucht. Die Tiere kommen jedoch bestens ohne all dieses zurecht: sie wissen nichts von Vergangenheit, und eigentlich "wissen" sie gar nichts im menschlichen Sinne. Aber auch ohne "Wissen" kann man erstaunliche Fähigkeiten haben, wie der Mensch spätestens erkennt, wenn er sich die Fäkalien aus dem Gesicht wischt, die der Affe zu Recht auf ihn geschleudert hat.