Jürgen Krüger
Hirnforschung


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Archiv Hirnbriefe ab 2022

Inhalt

1 (2022) Zwei Gedankenstränge

2 (2022) Konstanz

3 (2022) Gehirn ohne Bewusstsein

1 (2023) Wissen und Lernen, Mensch und Tier

2 (2023) Unendlich langes Leben, immer wieder unterbrochen

3 (2023) Gott und Affe

1 (2024) Heute,gestern, vorgestern

2 (2024) Ratte, Affe, Kant: Kategorischer Imperativ

Nr  1 2022

Zwei Gedankenstränge

Zwei hauptsächliche Gedankenstränge habe ich in früheren Hirnbriefen zum Thema "Bewusstsein" angeboten, aber es gelingt mir nicht, diese wirklich zusammenzuführen. Mich treibt die Vorstellung, dass das aber irgendwie möglich ist. Hier stelle ich die beiden Stränge (erneut) vor, und anschließend ein Sammelsurium von Stichpunkten, die vielleicht für den angestrebten Erfolg eine Rolle spielen könnten.
Von diesen Gedankengängen ist einer ("Unt"), den ich vor allem im Hirnbrief 2 (2015) dargestellt habe, dass der Ursprung des Bewusstseins mit der Fähigkeit zur systematischen späteren Fortsetzung neuronaler Prozeduren nach Unterbrechungen zusammenhängt. Es geht dabei nicht um den immer wieder unterbrochenen und immer wieder fortgesetzten Nest- oder Höhlenbau der Tiere, weil man da den unfertigen Zustand jedes Mal mit den Sinnesorganen erfassen kann. Auch kann es sein, dass für solche Elementarfunktionen andere Regeln gelten.
Von Interesse sind vielmehr die Fälle, bei denen die Sinnesorgane nicht zeigen, dass, oder wie man weitermachen muss. Beispielweise kommt der Patient am nächsten Tag erneut zum Arzt, nachdem er am Vortage eine Tablette erhalten hat. Diese Gabe hinterlässt keine am nächsten Tag sensorisch erfassbaren Spuren (ich meine jetzt nicht den möglichen medizinischen Effekt der Tablette). Vielmehr muss (oder sollte) der Arzt sich an die Tablettengabe erinnern. Er muss also ein episodisches Gedächtnis angelegt haben von dem Vorgang. Dieses ruft er am nächsten Tag ab, um die Behandlung fortzusetzen. Die Erinnerung ist erforderlich, damit der Arzt eventuelle Veränderungen im Befinden des Patienten mit der Gabe der Tablette in Zusammenhang bringen kann.
An dieser Geschichte ist zweierlei von Interesse: Erstens wird das Bewusstsein üblicherweise mit dem episodischen Gedächtnis in Zusammenhang gebracht, weil Vorgänge nur dann als bewusst erlebt gelten, wenn man sich an sie erinnern kann. Wenn ich den Autoschlüssel nicht finde, dann bin ich der Ansicht, dass ich ihn unbewusst irgendwo abgelegt habe. Zweitens, wenn man ein solches Unterbrechungs- und Fortsetzungs-Management einmal eingerichtet hat, dann ist der Weg frei für die Entwicklung von Prozeduren von quasi unendlich langer Dauer. Ohne ein solches Management ist eine Unterbrechung immer ein Abbruch; die Entwicklung längerdauernder Prozeduren wird durch irgendwelche dringenden, sich dazwischenschiebenden anderen Prozeduren immer wieder verhindert. Der große Entwicklungsfortschritt liegt darin, dass länger laufende Prozeduren komplexer sein können. Man kann ein solches Verfahren auch umgekehrt als eine Möglichkeit sehen, kleinere Prozeduren (mit Pausen dazwischen) aneinanderzuketten.
Nun wird ja das Bewusstsein üblicherweise mit den höchsten intellektuellen Leistungen in Zusammenhang gebracht (wenn auch mir nicht klar ist, wie man das beweist). Jedenfalls kann man unbewusst keine Mathematik betreiben, womit ich nicht das Ausrechnen von 3 + 4 meine. Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist, dass die Entwicklung des genannten Managements ein pauschales Verfahren ist, um zu höheren Hirnleistungen zu kommen. Es ist nicht damit befasst, was bearbeitet werden soll. Dies ist im Gegensatz etwa zu einer direkten Entwicklung von individuell gestalteten Hochleistungsprozeduren. Dieser Teil der Geschichte soll verständlich machen, wieso ein Schimpanse kein Haus bauen kann, obwohl er sicherlich imstande wäre (alles einzeln gemeint), Erze zu finden, Feuer zu machen, Metall zu schmelzen, Steine zu behauen, Kalk zu brennen, Kalk zu löschen, Steine mit Kalk zu Mauern aufschichten und immer so weiter. Nichts ist dabei, was ein Schimpanse nicht ausführen könnte, wenn alle Begleitumstände gegeben sind. Die manchmal zu hörende Anmerkung "das braucht er ja nicht" ist an Dämlichkeit eigentlich nicht zu übertreffen, weil sie die ganze Entwicklungsgeschichte leugnet. Jedenfalls könnte man die kurze Entwicklungszeit von nur ca. 5 Millionen Jahren von schimpansen-ähnlichen Primaten zum Menschen besser verstehen, wenn man annimmt, dass die jetzigen Menschen ein episodisches Gedächtnis, und das Unterbrechungs-Management entwickelt haben. Damit haben sie die Sackgasse überwunden, unterbrochene Prozeduren nicht wieder aufgreifen zu können, und damit zu höheren und langdauernden Hirnleistungen zu kommen.
Man darf (bei heutigen Affen) das fehlende episodische Gedächtnis nicht verwechseln mit einem evtl. hervorragenden prozeduralen Gedächtnis. Mit letzterem kann man etwas (durchaus komplexes) wiedererkennen, die zu erinnernde Sache muss also vorgegeben werden. Hingegen beim Abruf aus dem episodischen Gedächtnis muss man nur ein nicht inhaltstragendes Signal vorgeben, um einen Gedächtnisinhalt hervorzuholen. Das ist zwar ein gefährliches Manöver wegen der Verwechslungsgefahr mit realen Szenen, aber für diesen Punkt haben die Affen schon Vorarbeit geleistet. Einiges dazu steht schon in meinen Hirnbriefen Nr. 17, Nr. 31 un Nr. 42/43 (alle 2009).
Hiermit ist der Gedankenstrang "Unt" in etwa wiedergegeben. In seiner Beschreibung wird zwar das Bewusstsein erwähnt, aber die entscheidende Funktion des episodischen Gedächtnisses ist eine neuronale, d.h. eine per gewöhnliche Naturwissenschaft erfassbare, nämlich ein rein "neurotechnischer" Speicher- und Auslesevorgang, wie er in ähnlicher Form auch bei der Nutzung technischer Speicher vorkommt. Für das Problem des Zusammenführens mit dem anderen Strang "Int" ist das Auftreten einer zu überbrückenden zeitlichen Lücke von besonderer Bedeutung.
Der zweite Strang "Int" betrifft die visuelle Wahrnehmung. Wahrnehmung allgemein ist der sensorische Teil des Bewusstseins; sie ist ebenso wie die Bewusstseinsvorgänge ganz allgemein kein physiologischer Prozess. Vielmehr sind die Wahrnehmungs- ebenso wie die Bewusstseinsinhalte Bedeutungen von physiologischen und vielleicht noch weiteren Prozessen. Diese Bedeutungen bezeichne ich als phänomenale Gehalte. Hierbei ist wichtig, dass die Zuweisung von Bedeutungen kein Teil der Naturwissenschaft ist (aber umgekehrt sind die gesamten Inhalte des Gedankengebäudes "Naturwissenschaft" Bedeutungen von physiologischen Hirnprozessen). Der Punkt, auf den es jetzt ankommt, ist, dass die visuelle Wahrnehmung zeitlich lückenlos ist, wobei mit Abstand die meisten Wahrnehmungsinhalte über lange Zeit als konstant erscheinen. Dabei sind Perspektivenänderungen bereits herausgerechnet: die Häuser an meinem täglichen Weg zur Arbeit erscheinen mir tagelang als völlig konstant, auch während ich gehe, trotz veränderter Perspektive. Stundenlang nehme ich ein Bücherregal gegenüber von meinem Schreibtisch wahr, ohne dass ich darauf Aufmerksamkeit richte. Es erscheint mir trotz häufiger Blickwendungen als konstant.
Nicht einmal ein Laie würde annehmen, dass die Neurone im Gehirn die ganze Zeit damit befasst sind, all diese konstanten Details Millisekunde für Millisekunde zu signalisieren. Vielmehr würde man einen Trick unbekannter Art vermuten. In der Tat verbraucht das Gehirn enorm viel Stoffwechselenergie: man kann feststellen, dass die Energie nur ausreicht, um zeitliche Änderungen zu bearbeiten, und davon auch nur die wichtigsten. Also müsste das von den Neuronen übermittelte Weltbild extrem lückenhaft sein. Die überaus zahlreichen konstanten Anteile würden überhaupt nicht vorkommen. Die beiden vorigen Hirnbriefe von 2021 sind mit diesem Problem befasst. Der vermutete Trick, um nun zu einem zeitlich lückenlosen Weltbild zu kommen, ist, wenn man so will, das Bewusstsein. Dazu muss man "die Zeit" erfinden, denn ohne diese wäre ja gar nicht feststellbar, dass zwischen den Änderungs-Signalen Nr. 22 und Nr. 23 noch etwas sein müsste, nämlich ein konstanter Welt-Anteil. Wohlgemerkt kann der Besitzer des Gehirns den (hier so numerierten) Signalen nicht ansehen, dass sie "Änderungen" von irgendetwas bis dahin Unbekanntem signalisieren; es sind einfach Signale, die hereinkommen.
Wie schon im vorigen Hirnbrief gesagt, ist die Sache für einen "gewöhnlichen" Naturwissenschaftler ganz einfach: Er oder sie bildet ein Zeitintegral über die Änderungssignale, um die konstanten Lücken auszufüllen. Nur ist das Dumme dabei, dass man dazu schon wissen muss, dass es "die Zeit" gibt, und erst dann kann man anfangen, die neuronalen Signale aufzufassen als zeitliche Änderungen von anderen Signalen, die durch die Integration entstehen. In seinem Alltag macht sich der Naturwissenschaftler beim Integrieren keine Gedanken darüber, dass er oder sie damit den Originalsignalen die zusätzliche Rolle zuweist, von einem Zeitpunkt aus auf einen unmittelbar darauffolgenden zu verweisen.
Aus den genannten Hirnbriefen geht auch hervor, dass der Aufbau der ganzen für das vorliegende Gebiet zuständigen Naturwissenschaft diese Situation wiedergibt, weil alle relevanten Grundgleichungen der Naturwissenschaft Differentialgleichungen in der Zeit sind.
Immerhin, dass da irgend etwas in dieser Art stattfindet, merkt man an der unaufmerksamen visuellen Wahrnehmung, die den ganzen Tag lang das Mobiliar im Zimmer als konstant wiedergibt, und zwar oftmals auch in Fällen, bei denen sich kleinere Anteile sehr wohl verändert haben. Diese Wahrnehmung würde also rein phänomenal, also nicht neurophysiologisch, durch Integration über die neuronalen Änderungssignale entstehen. Dabei kommt eine intuitive Unverständlichkeit dadurch zustande, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem man ein solches zeitkonstantes Detail (unaufmerksam) wahrnimmt, dieses Detail neuronal überhaupt nicht signalisiert wird. Es wird sozusagen nur "gewusst", dass sich dort nichts anderes als nur dieses Detail befinden kann. Das Detail wurde nur zu längst verflossenen Zeiten tatsächlich neuronal signalisiert. Schon in den vorigen Hirnbriefen steht, dass dieses "gewusst" so ähnlich wie 3 + 4 = 7 ist, welches als gültig aufgefasst wird, auch wenn es niemand wirklich ausrechnet. Allerdings muss man im Fall einer Integration auch als "gewusst" auffassen, dass es "Zeit" gibt.
Hiermit ist der Gedankenstrang "Int" in etwa wiedergegeben. Auch hier gibt es zeitliche Lücken, die aber nicht stören in Form einer Unterbrechung, sondern die ausgefüllt werden. Wenn ich mich nun also daran mache, die beiden Stränge "Int" und "Unt" zusammenzuführen, dann lässt sich zumindest mal feststellen, dass ich keine Widersprüche überwinden muss, die zwischen den Strängen bestehen. Vielmehr ist "Unt" eine sozusagen gewöhnliche neuronale Geschichte, die auf naturwissenschaftlicher Grundlage mitsamt dem normalen Zeitbegriff ruht. Hingegen ist "Int" eine Geschichte, die direkt einen Vorschlag enthält, wie Bewusstseinsinhalte (in dem Fall Wahrnehmungsinhalte) entstehen aus neuronalen Prozessen, und vor allem, warum man das Wesen dieser Inhalte naturwissenschaftlich nicht einordnen kann.
Auf jeden Fall hat man es in beiden Fällen mit größeren zeitlichen Lücken zu tun, und immerhin bietet das naturwissenschaftlich orientierte "Unt" einen Hinweis auf das Bewusstsein durch das Auftreten des episodischen Gedächtnisses.
Das Hauptproblem, so scheint es, ist "die Zeit". Diese ist bei "Unt" schon längst erfunden und in die Naturwissenschaft eingeordnet worden, in derselben Weise wie sie auch im Alltag aufgefasst wird. Hingegen muss man bei "Int" regelrecht verlangen, dass "die Zeit" erfunden werden muss, um sie dann als Koordinate zu verwenden, längs derer die Integration durchgeführt wird.
Das Ziel ist, die Stränge "Int" und "Unt" zusammenzuführen. Erstens kann man versuchen, von "Int" nach "Unt" zu kommen, indem man die Idee verfolgt, dass "die Zeit" nur deshalb erfunden wurde, um mit Hilfe des Verfahrens "Unt", dessen wesentliches Element eine Ausdehnung auf der Zeitachse ist, zu höheren Leistungen zu kommen. (Mir ist klar, dass dieser Satz verschiedene gedankliche Ebenen in einer eigentlich unzulässigen Weise vermischt, aber es geht zunächst nur darum, die gedankliche Richtung zu skizzieren.) Oder zweitens kann man die umgekehrte Richtung versuchen, nämlich dass gerade diese Unterbrechungslücke bei "Unt", deren Beschreibung mit der gewöhnlichen Naturwissenschaft verträglich ist, der Ursprung des Auffüllens von konstanten Zeitabschnitten bei "Int" ist, oder zumindest direkt etwas damit zu tun hat. Der Knackpunkt ist, dass irgendwie die Idee entstehen soll, dass neuronale Erregungen nicht einfach nur "etwas signalisieren", sondern dass sie "Änderungen von einer bis dahin unbekannten Variablen signalisieren", wobei zusätzlich geklärt werden muss, längs welcher Koordinate (nämlich der Zeit) diese Änderungen passieren sollen.
Hier endet die Beschreibung der beiden Gedankenstränge. Es folgt nun eine Sammlung von sechs zusätzlichen Punkten, die für eine Zusammenführung der Stränge vielleicht gebraucht werden.
(1) Es kann sein, dass die Zusammenführung nicht klappen kann, ohne dass man Änderungen auch im räumlichen Bereich in ähnlicher Weise einbezieht. Immerhin gibt es ja bei der visuellen Wahrnehmung das Ausfüllen ("Filling-in") von räumlich konstanten Farb- und Helligkeitswerten in Flächen, wobei die Neurone nur den Unterschied außerhalb/innerhalb des Randes der Fläche signalisieren, und auch hier die Wahrnehmung der inneren Gebiete der Fläche durch Integration von den Rändern her zustandekommt. Allerdings ist das Konzept "Raum" anders strukturiert als das der "Zeit", allein schon wegen der 3 Dimensionen, und auch, dass man herumlaufen kann.
(2) Bei der Betrachtung der Wahrnehmung wird zwar viel geredet (wie auch hier) über die Natur der Wahrnehmungsinhalte, aber kaum über die Natur der Entität, die da wahrnimmt. Sicherlich ist das nicht einfach das physiologische Gehirn, allein schon weil dieses ja nicht auf reine phänomenale Gehalte reagieren kann. Es ist vielleicht eher das "Ich", aber dieses ist auch noch subjektiv, d.h. es gibt nur eines, nämlich dasjenige, das ich selbst empfinde. Dass andere Leute ebenfalls eine solche Empfindung haben, ist nicht feststellbar; auch nicht per ausgesandter Luftdruckwellen ("Sprache"), deren Bedeutungen nur ich verstehe. Dass andere sie ebenfalls verstehen, und nicht nur neuronal auf die Luftdruckwellen reagieren, ist nicht feststellbar.
(3) In "Unt" wird das (neuronale) episodische Gedächtnis erwähnt. So lange sein Betrieb ein rein neurophysiologischer Prozess ist, spielt immer nur eine Rolle, was gerade in der jeweiligen Gegenwart passiert (Einspeicherung zu einem Moment, Auslesevorgang zu einem anderen), und es gibt keinerlei Bedeutungen. Hingegen mit dem Bewusstsein kommen Bedeutungen ins Spiel. Davon die entscheidende ist, dass eine gegenwärtige Erregungsverteilung (erzeugt von einer Speicher-Auslesung) eine andere Erregungsverteilung, nämlich eine vergangene, bedeutet. Da muss zunächst einmal keine Rede sein von Außenwelt-Bedeutungen, wie z.B. einem Apfel. Allerdings kann eine derartige reine Zeitbedeutung ohne eine zusätzliche inhaltliche Außenweltbedeutung im Bewusstsein nicht aufscheinen, d.h. man kann sie nicht empfinden. So etwas würde bedeuten, dass ich eine Prozedur (z.B. Suppe mit dem Löffel essen) völlig unbewusst abwickle (was durchaus möglich ist), aber wenn die Abwicklung der Prozedur unterbrochen wird, mir im Moment der Fortsetzung völlig isoliert nur der vergangene Zeitpunkt des Abbruchs bewusst wird. Generell kann man sich keinen reinen vergangenen Zeitpunkt ohne irgendein zugehöriges Ereignis denken. Dieses geht nur für den gegenwärtigen Moment. Es ist das "jetzt"-Gefühl, das man ständig zusätzlich, aber ohne Bezug zu den gerade laufenden Ereignissen hat. Für einen "nicht-jetzt"-Moment gibt keine derartige Empfindung. Das gegenwärtige Jetzt-Gefühl umfasst keine Inhalte, sondern bestenfalls die Empfindung, dass die Zeit vorangeht. Auch dieses Vorangehen kann ich für zeitlich weitab liegende Momente nicht empfinden. "Jetzt" ist sozusagen eine zeitliche Differentialempfindung: sie betrifft den gegenwärtigen und den infinitesimal späteren Moment.
(4) Vielleicht muss man die letztgenannten zeitlichen Aspekte mehr dem "Ich" zuordnen als der Welt. Das "Ich" scheint es in gewisser Weise nur in der Gegenwart zu geben; damit ist diese Unikums-Empfindung gemeint, die mich selbst von innen erleben lässt. Für vergangene Momente gibt es eher Erinnerungen, in der mein Körper und meine Handlungen erscheinen.
Das "Ich" überlappt sich vermutlich mit dem Begriff des Beobachters in der Physik. Auf jeden Fall ist der Beobachter in der Physik irgendwie eingeklemmt zwischen den zwei widersprüchlichen Anforderungen, einerseits eine völlig ungestörte Welt zu beobachten, d.h. sie durch die Beobachtung nicht zu stören, andererseits aber ist diese Welt unvollständig, eben weil von ihr der Beobachter abgespalten wurde und nicht mitbeobachtet wird. Da ist es zunächst einmal nicht verwunderlich, wenn auch unverständlich, dass dieser Beobachter, oder auch das "Ich", irgendwie in einer phänomenalen nichtmateriellen Welt angesiedelt ist. Damit versackt man allerdings im Rückbezüglichkeitsdilemma, denn die ganze Welt existiert ja ohnehin nur in Form phänomenaler Gehalte, die Bedeutungen (für wen?) von neuronalen Prozessen sind, wobei auch die neuronalen Prozesse zu dieser Welt gehören.
(5) Konsequenterweise  müsste in "Unt" ein Abruf aus einen episodischen Speicher eine Änderung von etwas anderem signalisieren, und genau so ist der Inhalt ja auch abgespeichert worden. Hier müsste man genauer überlegen, wie eine Erkennung einer Änderung von Steuersignalen (siehe Punkt 6) von einer Änderung von Signalen innerhalb einer Prozedur unterschieden wird.
(6) Wie sieht eine Unterbrechung aus, wenn man die beteiligten Neurone anschaut? Zunächst einmal ist es einem Neuron egal, was für Signalverteilungen an seinen Synapsen eintreffen; es verarbeitet diese in allen Fällen nach den Regeln, denen dieses Neuron gehorcht. Die beim Neuron eintreffenden Signale können zu einer bestimmten Prozedur gehören (dann produziert das Neuron ein bestimmtes Ausgangssignal). Wenn aber eine Unterbrechung stattfindet, kommen andere Eingangs-Signalverteilungen, die zu einer anderen Prozedur gehören, und das Neuron produziert ein anderes Ausgangssignal. "Andere Ausgangssignale" können aber auch innerhalb derselben Prozedur vorkommen. Man kann also mit dieser einfachen Betrachtung eine Unterbrechung nicht unterscheiden von Änderungen, die im Ablauf derselben Prozedur vorkommen.
Nun muss eine jede Prozedur mit einer Vielzahl kleiner Varianten in den Eingangssignalen zurechtkommen (kleine Haltungs- und Bewegungs-Unterschiede beim Essen mit dem Löffel), die aber alle (mit kleinen Variationen) das Ziel der Prozedur erreichen. Deshalb braucht man eine übergeordnete Betrachtungsebene, um zu sehen, wodurch sich eine fortlaufende Prozedur von einer Unterbrechung unterscheidet.
Dazu muss man verstehen, wodurch sich eine Prozedur von einer anderen unterscheidet, unter der Annahme (wie sie für das Gehirn ganz allgemein zutrifft), dass weitgehend dieselben Neurone an deutlich verschiedenen Prozeduren beteiligt sind. Nur laufen die Signale über unterschiedliche Synapsen großenteils derselben Neurone. Man kann sich vorstellen, dass es darüberhinaus für eine jede Prozedur je eine Steuereinheit gibt, die vielleicht nur aus wenigen Neuronen besteht. Diese ist aktiv, so lange die Prozedur an der Arbeit ist. Sie sendet ihre Fasern derart ins allgemeine neuronale Gewebe, dass gerade die Neurone, die zur Prozedur gehören, eine Art Vor-Aktivierung bekommen, so dass zur Erzeugung von Ausgangssignalen viel weniger von der eigentlichen, die Prozedur kennzeichnenden Erregung gebraucht wird als ohne diese Vor-Aktivierung. Es ist, als ob die zu einer Prozedur gehörigen Neurone "aufgewärmt" würden. Das müssen nicht unbedingt immer genau dieselben Neurone sein. Jedenfalls ist das das allgemeine Verfahren, wie das Gehirn den Beschluss umsetzt, dass eine bestimmte Prozedur laufen soll, andere aber nicht, obwohl in vielen Fällen zum großen Teil dieselben Neurone beteiligt sind. Die Vor-Aktivierung bestimmt also, welche Prozedur laufen soll (da stehen allerlei Entscheidungsprozesse dahinter), während die Neurone, die diese Aktivierung empfangen, dafür zuständig sind, "wie es gemacht wird".
Dass die Neurone der Steuereinheit so lange aktiv sein sollen wie die Prozedur läuft, ist allerdings fraglich, denn es kommt im Gehirn eigentlich nirgends vor, dass die neuronale Entsprechung einer dauerhaften Situation eine konstante Dauer-Erregung ist. Dadurch müssten sehr viele Neurone über längere Zeit aktiv sein, ohne dass da besonders viel neue Information drinsteckte. Das Gehirn hat ein enormes Energieproblem; die Neurone können deshalb nur Änderungen, und davon auch nur die wichtigsten und die deutlichsten, bearbeiten.
Das ist eine allgemein gültige Regel. Sie bedeutet allerdings, dass das Gehirn sozusagen "nichts weiß" von dauerhaften Situationen aller Art. Nochmal mit Nachdruck: das Gehirn "weiß nicht", dass konstante Abschnitte überhaupt existieren. Zwischen zwei Änderungen ist Pause, und niemand weiß, wie lang diese eigentlich ist. Wenn ein Wissenschaftler ein solches Gehirn beobachtet, d.h. diese Änderungserregungen erscheinen im Bewusstsein des Wissenschaftlers als Wahrnehmungsinhalte, dann würde der Wissenschaftler zu dem Schluss kommen, dass das untersuchte Gehirn ein zeitlich sehr lückenhaftes Bild herstellt. In diesem sind für zeitkonstante Abschnitte keinerlei Daten vorhanden.
In "Unt" muss man also den Fall einer Unterbrechung einer Prozedur aus der Perspektive "nur Änderungen werden neuronal signalisiert" betrachten. Das ist insofern sehr schwierig, weil es dann keine "Zeit" gibt; diese entsteht ja erst dadurch, dass irgendwie gewusst wird, dass es konstante Perioden gibt, und wie lang diese sind. Behelfsweise muss man sich die Änderungen numeriert vorstellen: nach Nr. 22 kommt Nr. 23, aber es gibt keine Angabe darüber, wann Nr. 23 kommt. (In Wirklichkeit kann die Frage nach einem "wann" gar nicht gestellt werden.) Umgekehrt, wenn "die Zeit" schon erfunden worden wäre, und nur ein zeitlicher Abstand zwischen zwei Änderungssignalen bekannt wäre, dann wäre man schon zufrieden. Man würde keine inhaltlichen Daten von den konstanten Perioden benötigen, denn diese ergäben sich aus dem jeweils letzten Änderungssignal, das man ab diesem Schritt allerdings erstmals auffassen müsste als eine Änderung von etwas anderem.
Hier endet die Geschichte einstweilen; sie kommt mir vor wie ein winziger Teil eines riesenhaften Problems, das man niemals lösen wird. Anfrage an Radio Eriwan: "Kann man eine Lösung finden für diese Geschichte?" - Antwort von Radio Eriwan: "Im Prinzip nein, aber es wird immer wieder versucht". Auch ich will es immer wieder versuchen.

Nr 2 2022

Konstanz

Was soll man sich als Hirnforscher denken, wenn man mit der Vielzahl von räumlich oder zeitlich konstanten Erscheinungen zu tun hat? Im räumlichen Bereich gibt es das Schwerefeld an der Erdoberfläche, vielleicht auch noch Magnetfelder, wenn man nur in kleinere Entfernungen schaut, und beispielsweise Steine, Papierblätter oder Drähte, deren Materialeigenschaften (oder zumindest einige) längs dreier, zweier oder einer Dimensionen zwischen ihren Berandungen als konstant angenommen werden. Im zeitlichen Bereich gelten die meisten als "Gegenstände" bezeichneten Dinge, und viele ihrer Eigenschaften, für recht lange Zeiten als konstant. Sogar individuelle Lebewesen können in gewisser Weise als konstant angesehen werden, erkennbar daran, dass sie vielleicht einen Namen haben. Innerhalb dieser konstanten gedanklichen "Hülle" kann es jedoch Variabilitäten geben. In der Physik gelten Himmelskörper weitgehend als konstant, Elementarteilchen wie Elektronen, Neutronen, Mesonen oder andere werden sogar auch dann noch als "Teilchen", d.h. als Gegenstände aufgefasst, wenn sie nach extrem kurzer Zeit wieder zerfallen. Das ist insofern kurios, als niemand bei der Betrachtung eines schwingenden Pendels einen momentanen Bewegungszustand als "zwar extrem kurzzeitig, aber doch konstant während dieser kurzen Zeit" ansehen würde.
Woher kommt die Idee der Konstanz? Da wird ja nicht etwa der ganze räumliche bzw. zeitliche Bereich Punkt für Punkt lückenlos getestet, sondern es werden isolierte Proben genommen, und diese gelten dann für den ganzen konstanten Bereich. Es muss einen Mechanismus geben, der dann auf "Konstanz" schließt, und der dabei eine gewisse Toleranz gelten lässt.
Im räumlichen Bereich ist die Abfolge bei den Tests folgendermaßen: die Ergebnisse punktueller Tests werden unverzüglich wahrgenommen und auch neuronal gespeichert, so dass man sich an sie erinnern kann. Zumeist werden die Tests aus praktischen Gründen nacheinander (an verschiedenen Stellen) durchgeführt, aber im Prinzip könnten auch alle gleichzeitig ausgeführt werden. Dabei muss auf jeden Fall auf Wiederholungen der Tests Wert gelegt werden, um die die Verallgemeinerung auf das gesamte betrachtete Gebiet zu stützen. Diese Ausdehnung wird dann eher als intellektueller Akt angesehen. Bemerkenswert ist, dass auch bei gleichzeitig ausgeführten Tests deren Ergebnisse letztendlich nur nacheinander geprüft werden können, weil schließlich alles bei nur einem Untersucher zusammmenlaufen soll.
Ein Aspekt wird dabei so gut wie niemals erwähnt (außer in meinem Hirnbrief Nr. 3; 2009), dass nämlich an den getesteten Stellen niemals eine neuronale Erregung stattfindet. Denn die getesteten Stellen befinden sich außerhalb des Gehirns des Untersuchers. Deshalb müssen die neuronalen Prozesse, die den Test abzuwickeln ermöglichen, irgendwie die Bedeutung von Ortsangaben erhalten, und noch einiges mehr.
Rein visuelle Tests von konstanten ein- oder zweidimensionalen Objekten laufen anders ab: Neurone können an einer Grenzlinie feststellen "links schwarz, rechts rot". Wenn dann weiter nach rechts hin keine Meldung eines anderen Wechsels kommt, dann gilt "rot" weiter, bis schließlich noch weiter rechts eine andere Grenzlinie signalisiert wird. Das Besondere an diesen Fällen ist, dass der Detektor, also das visuelle System, im Prinzip das ganze betreffende Gebiet im Blick hat, aber wo keine Änderung festgestellt wird, gibt es keine neuronale Reaktion. Nur so kann eine ganze Fläche rot aussehen, obwohl die Neurone nur an den Rändern reagiert haben. Auch hier muss gesagt werden, dass an keiner Stelle im Inneren des tatsächlichen visuellen Reizes eine neuronale Erregung stattfindet, oder genauer gesagt, es mögen vielleicht welche stattfinden, aber sie werden nicht genutzt, und sind für diesen Zweck auch nicht geeignet.
Ein derartiges Verfahren, das von der Oberfläche ausgeht, lässt sich nicht anwenden, wenn man das Innere eines Steines als räumlich konstant erkennen will. Dafür fehlt ein geeigneter Detektor. Diesen gibt es ebensowenig für den gleichzeitigen Nachweis eines Schwerefeldes in einem großen Gebiet. Für das Innere des Steins fehlt er in zweierlei Weise: Erstens müsste man nicht Eigenschaften, sondern Änderungen von Eigenschaften punktuell messen, und zweitens fehlt einem möglichen Detektor ein "röntgenartiger" Überblick über den ganzen Stein. Für das Schwerefeld und das Magnetfeld hat man nur das erstgenannte Problem. Für das Schwerefeld kommt hinzu, dass es kein gutes Beispiel ist, da es praktisch nur einen einzigen Wert gibt.
Im zeitlichen Bereich sieht einiges anders aus. Als erstes fällt auf: es gibt eine riesige Menge von konstanten Objekten oder zumindest von konstanten Eigenschaften, und auch andere konstante Sachverhalte wie beispielsweise den dauerhaften Zusammenhalt von Gegenständen. Eine Apfelsine zwischen Blättern am Baum zu erkennen, ist leichter, wenn man dazu die Farbe heranzieht, weil diese unabhängig ist vom Grad der Verdeckung durch Blätter. Hingegen das Erkennen anhand der Form ist erschwert durch unterschiedliche Verdeckungen.
Was jetzt kommt, ist sprachlich schwierig auszudrücken: Es gilt nämlich zunächst derselbe Satz wie der obige für den Fall räumlicher visueller Analyse von ein- oder zweidimensionalen Objekten: "Der Detektor hat im Prinzip das ganze betreffende Gebiet im Blick, aber wo keine Änderung festgestellt wird, gibt es keine neuronale Reaktion." Nur ist jetzt mit dem "Gebiet" ein zeitlicher Bereich gemeint, und "der Detektor" tastet das "Gebiet" nacheinander ab (wobei aber hier die Besonderheit ist, dass "nicht gewusst" wird, was "nacheinander" heißen soll). Wenn es einen Einschaltvorgang gab, von der Art "erst dunkel, dann rot", dann wird der Reiz, sofern er nicht ausgeschaltet wird, nacheinander in jedem weiteren Moment als "rot" wahrgenommen. In jedem dieser Momente scheint der Reiz in der Wahrnehmung genau nur für jeweils diesen einen Moment auf ("jetzt ist diese Fläche rot"); es gibt keine gleichzeitige Wahrnehmung für ein größeres zeitliches Gebiet. Bestenfalls ist die Wahrnehmung begleitet von einer in jedem Moment verfügbaren Allzweck-Konstanzmeldung, d.h. sie meldet nicht "rot", sondern dass das Wahrgenommene, was auch immer es sei, konstant sei.
Freilich entspringen auch im räumlichen Fall die Meldungen von "Abwesenheit von Änderung" an lauter Einzelpunkten im Gesichtsfeld. Im räumlichen Fall werden sie von vielen Einzelpunkten "zusammengeholt", um im "Ich", von dem es nur eines gibt, den Eindruck zu erzeugen, dass es sich um eine Konstanz in einem größeren Gebiet handelt. Hingegen im zeitlichen Fall werden die Einzelpunkte in unbeeinflussbarer Weise "durch das Ich geschoben" (d.h. indem die Zeit vorangeht). Auf diesem Niveau gibt es noch einen weiteren deutlichen Unterschied zwischen dem räumlichen und dem zeitlichen Fall: im letzteren liegt das "Ich" innerhalb des betreffenden zeitlichen Bereichs, oder vielmehr am "gegenwärtigen" Ende dieses Bereichs: das Licht ist dauerhaft konstant an seit einer Weile bis hin zum gegenwärtigen Moment. Diese Hausmauer ist grau seit langer Zeit, und ist es auch jetzt noch. Hingegen im räumlichen Fall liegt das "Ich" immer außerhalb des betreffenden Bereichs.
Nun sind von anderen Gelehrten viele Texte geschrieben worden über die sogenannte vorhersagende Kodierung ("predictive coding") in Nervensystemen: Das Nervensystem hat einige öfter vorkommende (zumeist Außenwelt-)Reize zu erkennen gelernt (mit Hilfe kleiner neuronaler Prozeduren; manche davon sind auch geerbt), und wenn es zur erneuten Erkennung eines dieser Reize kommt, wird (über eine Rückkopplung) die neuronale Reaktion auf diesen Reiz unterdrückt. Nur wenn es ein anderer als einer der bisher gelernten Reize ist, gibt es eine neuronale Reaktion. So wahnsinnig vorhersagend finde ich das allerdings nicht. Wie auch immer: der hier betrachtete Fall der zeitlichen Konstanz ist der häufigste und auch einfachste Fall einer solchen Kodierung. Da besteht das als häufig vorkommend Gelernte über kommende Reize einfach aus der Idee, dass derselbe Reiz unverändert fortgesetzt wird, woraufhin es entsprechend der vorhersagenden Kodierung keine Reaktion gibt.
Ein Einwand zu dieser Darlegung ist, dass nach dem Prinzip "vorhersagende Kodierung" die Erregung zunächst Moment-für-Moment vorliegen muss, um dann in einem nachfolgenden Prozess weggehemmt zu werden, was Zweifel an der energetischen Sparsamkeit erweckt. Hingegen wird im Fall des Sehens gleich von vornherein nur eine kurzzeitige Erregung produziert, wenn sich etwas geändert hat, und wenn sich nichts ändert, gibt es keine Erregung.
Das eigentliche hier interessierende Problem liegt aber woanders. Es mag ja sein, dass ein Nervensystem aus energetischen Gründen seine Erregungen nur in den allerwichtigsten Fällen zum Einsatz bringt, meinetwegen durch vorhersagende Kodierung, und damit sparsam und effektiv das Verhalten des Lebewesens steuern kann. Nur: wie kommt denn dann die visuelle Wahrnehmung zustande, bei der ja gerade der ganze Reichtum wieder hervorgeholt wird? D.h. die unterdrückten Reize sind komplett zu sehen. Die visuelle Wahrnehmung besteht ja zum allergrößten Teil aus diesen langzeit-konstanten Anteilen. Aus den drei vorangehenden Hirnbriefen, und noch einigen früheren, geht hervor, dass man die Wahrnehmung eines langanhaltenden Reizes auffassen kann als ein zeitliches Integral über den (kurzzeitigen) Erregungsverlauf beim Einschalten. Die Integralbildung muss aber ein irgendwie virtueller nicht-materieller Vorgang sein; auf keinen Fall darf sie eine neuronale Erregung sein, die den ganzen Integrationsprozess begleitet, denn dann wäre das Bemühen um Energie-Ersparnis umsonst.
Wenn es aber so ist, dass das Lebewesen verhaltensmäßig bestens zurechtkommt mit den Ergebnissen von derartiger energiesparender Kodierung, wozu braucht es denn dann die Kenntnis all derer Details, die es gerade neuronal unterdrückt (aber phänomenal behalten) hat? Wozu werden denn die phänomenalen Gehalte des Bewusstseins gebraucht, wo sie doch so verschieden sind von den zugrundeliegenden neuronalen Erregungen? Auf jeden Fall erscheinen mir die Ergebnisse der oben angeführten Tests als phänomenale Gehalte; ich nehme sie bewusst zur Kenntnis. Im Prinzip müssten die dahintersteckenden Erregungen viel sparsamer sein und vor allem keine zeitkonstanten Erregungsverläufe haben. Die zeitlichen Abfolgen von Erregungen im Vergleich zu denen der Wahrnehmungsinhalte sind also das Problem.
Eigentlich müsste man folgern, dass wirklich alles, was das Nervensystem in objektiv feststellbarer Weise leistet, ausschließlich auf der Grundlage dieser Änderungssignale zustandekommt. Dazu würde auch die Produktion strukturierter Luftdruckwellen ("Sprache") gehören, beispielsweise wenn ich über die Langzeit-Konstanz eines bestimmten Hauses rede. Allerdings, was ich da objektiv ("naturwissenschaftlich") feststellen kann, ist nur die physikalische Schallfolge der Äußerung, nicht aber, was diese bedeutet. Man kann sich noch einigermaßen vorstellen, dass sprachliche Bedeutungen durch das Erlernen eines Massen-Konsenses entstehen, d.h. ein(e) jede(r) in einer größeren Gesellschaft lernt, mit welchen objektiv beobachtbaren Situationen bestimmte Schallfolgen zusammenhängen. Das bliebe jedoch weiterhin eine rein neuronale Affäre; "Bedeutungen", die man "weiß", die also im Bewusstsein aufscheinen, kämen nicht vor. Und ebenso bliebe weiterhin unverständlich, dass in der visuellen Wahrnehmung all die neuronal nicht Moment-für-Moment-dargestellten konstanten Dinge erscheinen.
Ich glaube, dass ein wesentlicher Punkt bei diesen Problemen ist, dass auch "das Vorangehen der Zeit" kein im Nervensystem objektiv feststellbarer Vorgang ist, sondern eine phänomenale Erscheinung im Bewusstsein. Es ist schwierig, genau zu beschreiben, was gemeint ist. Auf jeden Fall ist damit nicht gemeint, dass es periodische, oder auch anders zeitabhängige physiologische Vorgänge gibt. Vielmehr, wenn beispielsweise ein Herzschlag passiert, ist die Frage, was es denn bedeuten soll, dass ein weiterer Herzschlag danach kommt, und zwar ohne dass ich schon vorher weiß, was mit "danach" gemeint ist. Freilich sagen die Physiker schnell mal, dass "Zeit" sehr wohl "objektiv" sei, weil man sie ja messen könne, zB. mit einer Pendeluhr. Aber das geht nur, wenn man schon weiß, was es heißen soll, wenn man sagt, dass die Pendelschwingungen "zeitlich nacheinander" kommen.
Das Problem scheint schon angelegt zu sein in der Aussage, dass Neurone nur auf Änderungen reagieren. Zunächst einmal ist da in einem Moment einfach eine Erregung. Diese soll nun also als die Änderung einer anderen Variablen aufgefasst werden. Es ist so, wie wenn neuronale Erregungen zu vergleichen wären mit der Variablen "Geschwindigkeit"; das ganze neuronale System arbeitet nur mit dieser Variablen. Und nun soll auf einmal die Idee entstehen, dass diese Variable aufzufassen sei als "Änderung eines Ortes". Das System "weiß" aber zunächst nicht, was "Ort" ist; es hatte bis dahin niemals damit zu tun. Hinzu kommt, dass sogleich gesagt werden muss, längs welcher Koordinate diese Änderung passieren soll.
So unklar wie diese Geschichte ist, gibt es doch zwei Anmerkungen dazu zu machen. Die eine ist, dass der Übergang von "Erregung" zu "Änderung einer anderen Variablen längs einer neuen Koordinate" die Möglichkeit der Integration umfasst, d.h., wenn ich jetzt mal wieder das Wort "Zeit" statt "neue Koordinate" benutze, dass ich ein Integral über die Zeit bilde, um von der neuronalen Änderungsdarstellung zur Darstellung mit allen konstanten Partien zu kommen. Der Punkt dabei ist, dass man dann auch eine Anfangsbedingung benötigt, die ggf. in grauer Vorzeit liegt, und die unzulänglich bleibt, wenn ich da herangehe mit einem Apparat "Nervensystem", der immer nur in der Gegenwart arbeitet. Ich denke, dass die "Qualia", die notorisch als unzugänglich gelten, Anfangsbedingungen sind. Aber was noch alles zu diesen gehört, bleibt unklar.
Die zweite Anmerkung ist, dass alle für die hier betrachteten Sachverhalte bedeutsamen physikalischen Grundgleichungen "Differentialgleichungen in der Zeit" sind. Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist normalerweise, eine dieser Gleichungen zu "lösen" für einen vorliegenden Fall, wobei die Lösung normalerweise ein Integral über die Zeit umfasst. Die Frage nach den dann erforderlichen Anfangsbedingungen wird von den Physikern oftmals pragmatisch beantwortet, nämlich dass die Annahme bestimmter Anfangsbedingungen zu erfolgreichen Lösungen führt.
Vielleicht beruht die gesamte Einrichtung "Bewusstsein" auf solchen pragmatischen (d.h. nicht durch Gesetzmäßigkeiten erzwungenen) Anfangsbedingungen, und genau damit wird mein Nervensystem befähigt, unter anderem die hier vorgebrachten Überlegungen anzustellen, die ja nicht unbewusst durchgeführt werden können. Hier landet man wieder beim gedanklichen Kreisverkehr, auch Circulus Vitiosus oder Rückbezüglichkeitsdilemma genannt, den oder das ich schon oft erwähnt habe, aber zugegebenermaßen gelingt es mir nicht, dieses wirklich genau und scharf zu beschreiben.
Der Plan ist als nächstes, von den Physikern eine formale Beschreibung zu erhalten, wie man von einigen isolierten Tests mit immer wieder gleichen Ergebnissen den Schluss zieht, dass die gemessenen Eigenschaften auch zwischen den Tests vorhanden sind, also eine dauerhafte zeitliche Konstanz vorliegt. Dabei muss ich darauf achten, dass keine Volksweisheiten einfließen wie z.B. "ich weiß doch, was "Zeit" ist, und dass sie vorangeht".
So sieht eines der Hauptprobleme der Hirnforschung aus, aber so manch ein Hirnforscher hat das noch gar nicht bemerkt.

Nr 3 2022

Gehirn ohne Bewusstsein
Wenn man versucht, Hirnvorgänge mit dem Erklärungsrepertoire der Naturwissenschaften zu verstehen, dann stößt man auf zweierlei Hindernisse: zum einen gibt es vielerlei Umstände, vor allem die Komplexität des Gehirns, die ein Verständnis enorm erschweren, wenn auch nur aus praktischen Gründen. Zum anderen aber bleibt bei diesem Bemühen etwas übrig, nämlich das Bewusstsein, welches sich auf diese Weise überhaupt nicht erklären lässt, weil es nicht beobachtet werden kann. Nur ich selbst weiß aus einer Art Innenschau, dass ich phänomenale Gehalte empfinde, deren Gesamtheit das Bewusstsein ausmacht. Niemand kann beweisen, dass ein solcher Gehalt, oder Inhalt, in mir "aufscheint". So lange ich wach bin, empfinde ich ununterbrochen in jedem Moment irgendeinen solchen Inhalt. Dies kann eine visuelle Wahrnehmung, ein abgerufener Gedächtnisinhalt, ein Gedanke, oder auch ein Schmerz sein. All diese sind nur mir selbst aus meiner Innenperspektive zugänglich. Viele Inhalte treten auf, ohne dass ich meine Aufmerksamkeit auf sie richte. Aber ich empfinde auch diese als dauerhaft vorhanden.
Das hauptsächliche Vorgehen in meinen Hirnbriefen ist, wissenschaftlich verständliche Grundzüge der Hirnfunktionen als Ausgangspunkt zu nehmen, und diese zu vergleichen mit der allgemeinen Natur der von mir empfundenen phänomenalen Gehalte. Wechselbeziehungen zwischen diesen Gehalten sollen hingegen weniger berücksichtigt werden.
Die gegebene Definition des Bewusstseins weicht ab von derjenigen, die von einem Großteil der Neurowissenschaftler gegeben wird, und die auch häufig im Alltag verwendet wird: Man sagt beispielsweise "ich schaue bewusst diese merkwürdige Zange auf dem Arbeitstisch des Sattlers an", womit gemeint ist, dass man seine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet hat. Normalerweise bleibt jedoch währenddessen die ganze Sattlerwerkstatt in Form einer unaufmerksamen Gesamtwahrnehmung erhalten. In meinen Texten gilt dieser (viel häufigere und viel umfangreichere) Anteil auf jeden Fall als ein Teil des Bewusstseins, denn es handelt sich um phänomenale Gehalte, deren Natur es zu klären gilt. Dieser Anteil kann dabei sogar besonders hilfreich sein. Die meisten Wissenschaftler untersuchen hingegen Bewusstseinsvorgänge, vor allem deren sensorischen Anteil (die "Wahrnehmung"), immer unter der Bedingung der Zuwendung von Aufmerksamkeit, wohingegen unaufmerksame Anteile eher zurückgewiesen, ignoriert, verdrängt, oder bestenfalls in spärlichen Worten kommentiert werden.
Man kann phänomenale Gehalte als Bedeutungen neuronaler Prozesse auffassen: eine komplexe neuronale Erregungsverteilung bedeutet eine Sattlerzange, wobei aber ganz allgemein "A bedeutet B" keine naturwissenschaftlich gültige Operation ist. Andererseits ist die für dieses Urteil herangezogene Naturwissenschaft eine große Sammlung von phänomenalen Gehalten, so dass man befürchten muss, einem Rückbezüglichkeitsdilemma (Circulus Vitiosus) aufzusitzen.
Um einer Erklärung des Bewusstseins näher zu kommen, will ich beschreiben, wie es ist, wenn gar kein Bewusstsein beteiligt ist.
Am besten beginne ich mit einem Lernvorgang im Gehirn, und zwar einem, den ich (im Gegensatz zu den meisten Leuten) als "den gewöhnlichen" bezeichnen möchte: Zu einem Zeitpunkt liegt im Gehirn eine bestimmte neuronale Vernetzung vor. Diese kann sich entwickeln durch die Veränderung der Stärke der Signalübertragungs-Kapazitäten an den Kontaktstellen (Synapsen) zwischen den Neuronen. (Bei Wasserrohren entspräche dem ein veränderlicher Rohrdurchmesser). Diese Veränderungen umfassen auch die Neu-Entstehung (Durchmesser von Null an sich vergrößernd) oder auch die vollständige Unterbrechung (Durchmesser wird zu Null) von Kontaktstellen. Auch kann es kompliziertere Wechselwirkungen geben, weil jedes Neuron sehr viele Kontakte hat, und Signale, die über eine Gruppe von Synapsen in ein Neuron fließen, zur Folge haben können, dass andere Signale, die dasselbe Neuron über andere Synapsen erreichen, in ihrer Wirksamkeit verstärkt oder geschwächt werden.
Ein Lernvorgang passiert dann, wenn ein Schwall neuronaler Signale (beispielsweise von den Sinnesorganen) auf ein zugehöriges neuronales Netzwerk trifft, und besonders viele, oder besonders starke Erregungen in diesem Netzwerk ausgelöst werden. An den einzelnen Synapsen stellt sich das so dar, dass sowohl das ankommende Signal vor der Synapse als auch das Signal im empfangenden Neuron hinter der Synapse besonders stark sind (wobei letzteres über andere Synapsen des empfangenden Neurons hereingekommen sein kann). Tritt dieser Fall ein, so wird die Signalübertragungs-Kapazität der betreffenden Synapse verstärkt (das ist die eigentliche Gedächtnisbildung), so dass beim nächsten ähnlichen Fall allein schon das Signal vor der Synapse ein stärkeres Signal hinter der Synapse auslösen kann als zuvor. Was ein neuronales Netzwerk "erkennt", ist gegeben durch die gesamte Verteilung seiner Signalübertragungs-Kapazitäten. Wenn ein Schwall von Signalen kommt, der besonders gut passt zu dieser Verteilung, dann wird der Schwall "erkannt". Die Aufgabe eines jeden neuronalen Netzwerks ist, im Fall einer Erkennung ein für dieses Netzwerk typisches Ensemble von Ausgangssignalen zu produzieren, und dieses z.B. an bestimmte Muskeln (oder auch an andere Teilnetzwerke des Gehirns) zu senden. Das Ganze ergibt dann eine "Prozedur", z.B. "Suppe mit dem Löffel essen", die ich erlernt habe.
Im Grunde genommen ist die ganze Netzwerk-Verknüpfung ein Aufeinandertürmen von solchen Lernprozessen, beginnend nicht nur mit der Geburt, sondern ein Großteil des Gelernten wird seit der Entstehung der Tier-Art über viele Generationen als Erbe übernommen, so dass beispielsweise eine Maus sich so verhalten kann, wie sich Mäuse typischerweise verhalten.
Das Besondere ist, dass "das Gelernte" auch dann im neuronalen Netzwerk vorhanden ist, wenn gerade gar keine zugehörigen neuronalen Signale laufen. Sozusagen kann das Tier dann gar nicht erfahren, was sein Netzwerk alles kann. Erst wenn ein geeigneter Signalschwall kommt, kann man an dessen Schicksal beim Durchlaufen des Netzwerks erfahren, wozu das Netzwerk imstande ist. Das heißt aber auch, dass nur dann, wenn beispielsweise der Löffel und die Suppe auftauchen, man erfahren kann, was das Netzwerk in diesem Fall leisten kann. Mit anderen Worten: es gibt kein natürliches Verfahren, auch ohne Suppe und Löffel irgendwie herauszubekommen, ob das Netzwerk mit diesen Dingen umgehen kann. Mit noch anderen Worten: "die Welt" muss da sein, damit man mit ihr umgehen kann. Der Affe im Zoo kann den Besucher, der ihn am Vortag geärgert hat, beim nächsten Besuch wiedererkennen und ihm daraufhin eine Ladung Fäkalien ins Gesicht schleudern. Er kann jedoch nicht nach diesem ersten Besuch sich diesen Menschen vorstellen, d.h. sich an ihn "erinnern", um sich etwa eine Racheaktion zu überlegen. Der Affe "weiß" nicht, dass dieser Mensch existiert, so lange er ihn nicht sieht, obwohl in seinen Netzwerkkontakten die Möglichkeit von dessen Erkennung enthalten ist.
Das ist das "gewöhnliche Lernen" und das "gewöhnliche (prozedurale) Gedächtnis", das man in jedem Gehirn von Mensch und Tier vorfindet. Ein Bewusstsein kommt dabei nicht vor; alles ist naturwissenschaftlich zumindest im Prinzip verständlich. Radfahren zu können ist ein Beispiel. Eine weitere Besonderheit ist, wenn man etwas gelernt hat, dass die Netzwerkverknüpfungen in der vorigen "ungelernten" Version dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn man radfahren kann, dann kann man sich nicht mehr verhalten wie jemand, der das nicht kann und es erlernen will (wohlgemerkt in echt; nicht simuliert).
Der wichtigste Punkt ist, dass es keine Vergangenheit gibt. Vergangene Ereignisse existieren nicht, obwohl das gegenwärtige neuronale Geschehen von der Vergangenheit abhängt. Wenn man satt ist, gibt es keinerlei Erinnerung daran, dass man zuvor hungrig war. Als Mensch kann man sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn zwar das neuronale Geschehen immer wieder ein anderes ist, aber dass es keine Abfolge ist in dem Sinne, dass die jeweiligen gegenwärtigen Situationen "nacheinander" geschehen. Dafür würde ein Zeitkonzept benötigt. Wenn dieses fehlt, kann man dennoch sehr wohl mit zeitlich ablaufenden Ereignissen zurechtkommen: Man muss gelernt haben, dass man sie in jedem Moment so steuern kann, dass zeitliche Notwendigkeiten eingehalten werden. Nur hat man keinen Überblick (man hat ohne Bewusstsein ohnehin überhaupt keinerlei Überblick über irgendetwas) über den gesamten zeitlichen Verlauf, der ja auch vergangene oder vielleicht auch zukünftige Anteile enthalten würde. Es gibt nur die Gegenwart, in der immer ein Zustand in einen anderen übergeht, aber dass das beim vorletzten Schritt auch schon so war, oder dass nach dem gegenwärtigen Schritt noch ein weiterer kommt, steht nicht zur Verfügung. Dennoch kann man so bestens im Leben zurechtkommen.
Es ist ein großes Problem, dass Hirnforschung von Menschen betrieben wird, in denen das Zeitkonzept so fest verankert ist, dass sie gar nicht anders herangehen können an die Analyse der bisher geschilderten Sachverhalte als in zeitlichen Zusammenhängen.
Aus der Perspektive des Gehirns ohne Bewusstsein gibt es gar keine Außenwelt. Eine jede Nervenzelle reagiert nur in raffinierter Weise auf das, was andere Nerven- oder Sinneszellen ihnen liefern. So lange man nur die naturwissenschaftliche Sichtweise gelten lässt, kann es keinerlei Bedeutungszuweisungen geben, und vor allem keine, die besagt, dass all dieses Spuren von irgendwelchem Geschehen in einer Außenwelt sein könnten. Das gilt für alle Organe, und das Gehirn ist keine Ausnahme.
Es kann durchaus sein, dass in meinem Gehirn gerade eine Kopfbewegung neuronal veranlasst wird, so dass ich senkrecht nach oben schaue. Im selben Moment kann in mir eine Prozedur "Erkennung eines Artgenossen" anspringen, mit deren zahlreichen Verästelungen ich den Umgang mit diesem Genossen regele. Diese Prozedur meldet in diesem Moment "er schaut nach oben". Dass er und ich deshalb im selben Moment dasselbe sehe(n), ist für mich nicht ersichtlich. Es ist noch nicht einmal ersichtlich, dass ich meine eigenen visuellen neuronalen Signale auffasse als "aus einer Außenwelt kommend". Vielmehr fasse ich gar nichts irgendwie auf; für mich geht es nur darum, den unmittelbar nachfolgenden Schritt richtig (d.h. gesteuert durch die Struktur meines neuronalen Netzwerks) abzuwickeln, was auch immer dieser sei.
Bevor man über das Bewusstsein redet, muss man sich mit Affen befassen. Andernfalls ist alles nur noch viel schwieriger. Zwar gibt es hierzu schon einige Hirnbriefe (Nr. 42/43, 2009; Nr. 2, 2015 und Nr. 3, 2020), aber immer wieder werden andere Details mehr betont. Ich erzähle diesen Teil der Geschichte also noch einmal, und wieder ein bißchen anders.
Schon in der Schule habe ich gelernt, dass die Befreiung der Hände von Fortbewegungs-Aufgaben entscheidend war für die Entwicklung zum Menschen. Das ist ganz offensichtlicher Quatsch, weil es schon für die Affen gilt. Der weitere Schritt zum Menschen muss etwas anderes sein. Das Besondere an den Affen ist, dass sie all das mit den Händen tun, was man gemeinhin "Hantieren" nennt. Hingegen verrichten die meisten "gewöhnlichen" Tiere derlei Tätigkeiten mit dem Maul oder dem Schnabel. Andere Körperteile (Beine, Flossen, Flügel) dienen vor allem der Fortbewegung. Hinzu kommt bei den Affen (und auch vielen anderen Tierarten), dass sie vor allem den Sinn des Sehens stark ausgebaut haben. Wenn nun beispielsweise eine Amsel oder eine Katze mit einem Gegenstand (oftmals Futter) zu tun hat, dann bewegt sie ihren Schnabel oder ihr Maul dort hin. Dabei kommen die Augen sogleich mit heran, weil sie gemeinsam mit Maul oder Schnabel im Kopf festsitzen. Das Tier muss sich mehr oder weniger um nur zwei Koordinatensätze kümmern, nämlich "wo ist das Objekt" und "wo ist mein Kopf mitsamt Augen, aber auch mitsamt Maul oder Schnabel". Affen müssen sich hingegen mit drei Koordinatensätzen befassen, nämlich "wo ist das Objekt", "wo sind meine Augen" und "wo ist meine Hand". Das allein macht verständlich, wieso etwa ein Javaneraffe ein sehr viel größeres Gehirn hat als etwa eine Katze von gleicher Körpergröße.
Aber das ist nicht alles. Wenn nämlich ein Affe einen Gegenstand ergreifen will, dann benutzt er für die Handsteuerung vor allem das Sehen. In seinem Gehirn sind Prozeduren eingerichtet, mit denen er Gegenstände, aber auch seine Hände erkennt, und zwar in allen denkbaren Stellungen. Dies wiederum hat zur Folge, dass er mit denselben Prozeduren auch die Hände von Artgenossen erkennt. Wie schon in den genannten Hirnbriefen gesagt, darf er diese Fremd-Anblicke jedoch nicht für die Steuerung seiner eigenen Muskeln heranziehen. Das würde zu einem Chaos führen, wie es sicherlich auch ein Ingenieur erleben würde, der einen erfolgreich arbeitenden, mit einer Greifzange ausgestatteten Roboter gebaut hat, dessen zielgerichtete Zangenbewegung über eine Videokamera gesteuert wird. Wenn dieser Ingenieur nun eine zweite ebensolche Maschine gebaut hat, und deren Greifzange gerät in das Video-Blickfeld des ersten Roboters, dann wird dessen Programmsteuerung auf jeden Fall chaotisch reagieren. Wenn es mehrere derartige Maschinen gibt, muss mit Sicherheit verhindert werden, dass Bewegungen von Maschine 1 durch Anblicke der Greifzangen von Maschine 2 angesteuert werden können, wobei die Erkennung der Greifzangen jedoch nicht behindert werden darf. Die Affen müssen also eine Unterscheidung von eigener und fremder Hand einführen. Diese wirkt aber erst, nachdem eine Hand erkannt wurde. Im Verlauf der weiteren Entwicklungsgeschichte wurde die Erkennung von Händen auf die Erkennung des gesamten Körpers ausgedehnt: Affen können erkennen, dass ihr eigener Körperbau so ist wie derjenige von Artgenossen.
All diese Sorgen haben die obengenannten "gewöhnlichen" Tiere nicht. Sie hatten in ihrer Geschichte nie die Gelegenheit, zu erkennen, dass ihr Maul oder Schnabel demjenigen eines Artgenossen entspricht, allein schon, weil nur das eigene Maul sich mit dem eigenen Kopf, und damit den Augen, mitbewegt, aber auch, weil das eigene Maul so gut wie gar nicht gesehen werden kann. Vielmehr dominieren Signale vom Tast- und Geschmackssinn. Umgekehrt kann zwar das Maul eines Artgenossen gesehen werden, aber es werden keine Tast- und Geschmackssignale empfangen. Damit sind die Aussichten, das eigene Maul als etwas zu erkennen, das dem Maul eines Artgenossen entspricht, praktisch Null.
Beispielsweise eine Ratte muss zwar erkennen, dass Ratten diejenigen Tiere sind, mit denen sie Sozialbeziehungen unterhält, aber sie hat kein Verfahren (und braucht es auch nicht), das es ihr zu erkennen erlaubt, dass auch sie selbst eine Ratte ist. Vielmehr ist sie selbst eine Art Unikum. Damit meine ich die Gesamtheit neuronaler Verknüpfungen in ihrem Gehirn, das sämtliche denkbaren Aufgaben zu erledigen hat. Im Inneren dieser Gesamtheit gibt es Teilbereiche, in denen die besondere Beziehung zu Ratten erkannt, und entsprechendes Verhalten angesteuert werden kann. Im großen Ensemble der neuronalen Verknüpfungen des Unikums steckt also eine (andere) Ratte als ein kleiner Teil in diesem Unikum. Die neuronale Struktur einer "anderen Ratte" ist somit ganz offensichtlich total verschieden von der neuronalen Gesamtstruktur des Unikums.
Man kann sich die Sache verdeutlichen, indem man sich eine Videokamera vorstellt, die Aufnahmen von anderen Videokameras macht. Die erstgenannte Kamera ist natürlich, als materielles Objekt, etwas ganz anderes als die Video-Abfolge von Bildpixeln, die eine aufgenommene Kamera darstellt. Auch ist der tatsächliche Vorgang "Startknopf drücken" der ersteren Kamera von einer viel umfassenderen Natur als ein gefilmter Startknopfdruck. Das echte Startknopfdrücken hat echte kausale Folgen, weil damit die Abwicklung der Aufnahme beginnt. Der gefilmte Knopfdruck hat zwar ebenfalls Folgen, weil ja nach dem entsprechenden Einzel-Filmbild anschließend andere Filmbilder kommen, aber es ist klar, dass die Pixelverteilungen auf den folgenden Bildern nicht kausal hervorgerufen werden von den Pixelverteilungen des vorangegangenen Knopfdruckbildes.
Ohne Bewusstsein kann man eigentlich die gegebene Beschreibung von der Ratte nicht anfertigen. Dennoch kann man vielleicht ahnen, dass nur eine Art "Sicht von innen" möglich ist. Dann kann es nur ein Unikum geben, aber andere Ratten (die ja Bruchteile des gesamten Unikums-Netzwerkes sind,) kann es viele geben. Eine "Sicht von außen", d.h. eine Sicht, wie sie etwa ein Naturwissenschaftler von der Welt hat, ergäbe keinerlei hervorgehobenes Unikum, sondern nur viele Ratten. Hier kommt allerdings ein zusätzliches Gehirn, nämlich das des Naturwissenschaftlers (oder Beobachters) ins Spiel, in dem eine Bedeutungszuweisung passieren müsste, nämlich dass ein bestimmter Erregungsvorgang im Gehirn des Naturwissenschaftlers eine Ratte bedeuten kann. Das ist dann schon die hauptsächliche Spur des Bewusstseins, das noch nicht wirklich angesprochen werden soll.
In der Geschichte ganz ohne Bewusstsein "weiß" kein Tier etwas von dem, was ich bis hierhin geschrieben habe. Alle Zellen im Körper (in den Nieren, in den Muskeln und auch die Neurone im Gehirn) machen einfach nur ihre Arbeit aufgrund von Prozeduren, die im Laufe der Evolution, oder auch durch Lernvorgänge, entstanden sind. Keiner dieser Arbeitsschritte bedeutet etwas, weder für das Organ selbst, noch für irgendein anderes Organ oder System. Anhand einer Kamera kann man sehen, was gemeint ist: Eine Kamera kann für den Alltag sehr viel leisten. Unter anderem kann sie auch andere Kameras aufnehmen, aber es gibt für eine Kamera keinen Weg zu der Erkenntnis, dass eine aufgenommene Kamera so etwas ist wie die aufnehmende Kamera. Hinzu kommt, dass kein Organ die Möglichkeit hat, seine Fähigkeiten für die Lösung eines bestimmten Problems zu testen, ohne die betreffende Bearbeitung tatsächlich abzuwickeln. Testergebnisse können nur nach der Tat erscheinen, nämlich in Form von ausgelösten Lernvorgängen, die in eine pauschale, unspezifische Überlebens-Fitness einmünden können.
Man muss sich noch mit einem weiteren Aspekt befassen, bevor das Bewusstsein hinzukommt. Dazu stelle man sich eine richtige Grenze vor, durchaus nicht leicht zu überqueren, vielleicht sogar mit Stacheldraht bewehrt. Wenn man diese Grenze überwinden will, und steht direkt davor, dann ist in allererster Linie das Problem, wie man das schafft. Hingegen der Gesichtspunkt, dass man sich noch in einem Gebiet mit den politischen oder besitzmäßigen Verhältnissen X befindet, aber hinter der Grenze die Verhältnisse Y herrschen, steht nicht im Vordergrund, wenn man sich an dieser Stelle befindet. Auch kommt es im vorliegenden Text nur darauf an, dass es sich bei der Grenze um eine Linie handelt, während die Gebiete davor und dahinter Flächen sind. Für diese Flächen, auch weitab von der Grenze, gelten die Verhältnisse X bzw. Y jeweils überall, sind also innerhalb einer solchen Fläche konstant.
Im nächsten gedanklichen Schritt soll man sich vorstellen, dass diese Grenze nicht eine räumliche Linie, sondern ein Zeitpunkt auf einer Zeitskala ist. Vor diesem Zeitpunkt sollen andere Verhältnisse herrschen als danach. Man muss sich dazu verdeutlichen, dass allein schon die visuelle Welt fast nur aus als zeitkonstant erkannten Eindrücken besteht (wie z.B. das Mobiliar eines Zimmers), die durchaus stundenlang in jedem Moment als identisch wahrgenommen werden. Den meisten Leuten ist nicht klar, welche gewaltige Menge von zeitkonstanten visuellen Eindrücken sie ständig haben. Freilich wendet man derlei Eindrücken kaum Aufmerksamkeit zu, aber phänomenal erscheinen sie als dauerhaft vorhanden. Hier wird die Geschichte in sofern konkreter, als das Nervensystem nicht imstande ist, derart langdauernde zeitkonstanten Verhältnisse durch ununterbrochene zeitkonstante Erregungen wiederzugeben. Hier ahnt man schon ein wenig, warum man das Bewusstsein naturwissenschaftlich nicht versteht.
Ich fahre fort mit der Innensicht, welches ohnehin die einzige Sicht ist, von der man ausgehen kann. In einem Moment (es gibt sowieso nur diesen) möge im Gehirn eine Verteilung von Erregungen stattfinden. Das Lebewesen käme auf jeden Fall mit ihr zurecht, ohne irgendwelche Rückgriffe auf "Bedeutungen". Nun soll, ohne dass man einen Grund dafür angeben könnte, ein phänomenales Niveau entstehen, auf dem solche Bedeutungen von Erregungen erscheinen. "Für wen", ist sofort die erste auftauchende Frage. Damit ist von vornherein eine Aufspaltung in zwei Sorten von Inhalten auf dem phänomenalen Niveau gegeben, nämlich zum einen gibt es diesen Empfänger (auf den sich dieses "für wen" bezieht; dieser ist das "Ich"; bei den Physikern wird er "Beobachter" genannt), und zum anderen gibt es die eigentlichen Bedeutungen, die in diesem Ich "aufscheinen". Es gibt also schon Unklarheiten, noch bevor allzuviel gesagt wurde.
Wie auch immer, die erste Bedeutungszuweisung ist, dass jene genannte Verteilung von Erregungen die Änderung einer unbekannten Variablen bedeuten soll, dass sie also eine Grenze markiert zwischen zwei Zuständen. Für dieses Ich sollen also diese Erregungen eine Änderung bedeuten. Mehr im Detail: Die zwei Zustände erstrecken sich längs einer einzigen Dimension. Dann kann die durch die Erregungen gegebene Grenze nur ein Punkt sein. Warum das alles so sein sollte, ist völlig unklar.
Man ahnt schon: das Ich hängt mit dem obengenannten Unikum zusammen, also mit der Unmöglichkeit, die von Artgenossen erhaltenen neuronalen Signale als vergleichbar zu erkennen mit denjenigen, die ich intern von mir selber erhalte. Immerhin: sowohl vom Unikum als auch vom Ich gibt es nur ein Exemplar. Nebenbemerkung: Man lasse sich nicht in die Irre leiten, wenn auch jemand anderes "ich" sagt, und man somit meinen könnte, es gäbe mehrere Ichs. Dieses gesprochene "ich" kommt bei mir als eine bedeutungslose Luftdruckwelle an, die bestimmte Erregungen in meinem Gehirn anwerfen kann. Nur ich selbst kann diesen Erregungen Bedeutungen zuweisen, was auch immer diese seien mögen in diesem Fall. Dass diese andere Person ebenfalls Bedeutungen zuweisen kann, die dann direkt als fertige Bedeutungen zu mir gelangen, ist auf keine Weise ersichtlich oder verständlich, und durch Verhaltensbeobachtungen einschließlich Sprache nicht nachweisbar. Ich müsste dazu eine Empfindung haben ähnlich der Gesamtheit von Empfindungen, die ich von mir selbst bekomme, aber aus der Perspektive der anderen Person. Auch aus der gemeinsamen Zugehörigkeit zur biologischen Spezies "Mensch" kann man keine derartigen Schlüsse ziehen, da sie sich auf Sachverhalte beziehen, die außerhalb der Naturwissenschaft liegen.
Die Affen haben diesen Stand der Dinge schon überwunden, obwohl unklar ist, ob sie eine Ich-Empfindung haben. Auf jeden Fall können sie, vielleicht rein physiologisch, d.h. ohne das Auftreten eines phänomenalen Niveaus, ausnutzen, dass sie selbst so etwas sind wie ein Artgenosse. Zugleich bleibt aber erhalten, dass sie mit den Signalen, die vor allem über das Sehen vom Artgenossen kommen, keine Muskeln ansteuern dürfen. Das führt dazu, dass Affen so gut wie gar nicht imstande sind, beobachtete Aktionen zu imitieren, obwohl es in vielen Sprachen den Begriff "Nachäffen" gibt.
Auf den Menschen ist diese Doppelgleisigkeit übergegangen: Zum einen empfindet man sich selbst als ein (phänomenale) Ich-Unikum, das man aus einer Art Innenschau erlebt, so dass sich manch eine(r) die Frage stellt, was denn mit dieser Empfindung vor der Geburt war und nach dem Tod sein wird. So ist es nicht verwunderlich, dass Mutmaßungen angestellt werden darüber, ob dieses Ich vielleicht dann mit einem anderen Individuum verknüpft ist. Zum anderen empfindet man, allerdings auf eine ganz andere (eher intellektuelle) Weise, dass man ein Mensch ist wie alle anderen. Das ist das Erbe der Affen, und es ist ein erster Schritt zu einer Außenperspektive. Bemerkenswert ist daran, dass das Ich im Grunde genommen gar keine Zeitstruktur hat, ebenso wie die obengenannte aufnehmende Videokamera als dauerhaft vollständig aufgefasst wird. Dass jemand das Objektiv abschrauben könnte, ist nicht gemeint. Beginn und Ende des Ichs könnten wohl mit Geburt und Tod zusammenhängen, aber das ist eine intellektuelle Überlegung. Diese scheint ja nicht jede(n) zu überzeugen, was auf die Naturwissenschafts-Ferne dieses Konzepts hinweist. Hingegen die Ansicht "ich bin ein Mensch wie jeder andere", ähnlich gefilmten Objekten, umfasst vor allem zeitlich strukturiertes Verhalten. Gegen diese Ansicht scheint niemand einen Einwand zu haben.
Nun muss es weitergehen mit der Idee, dass neuronale Erregungen Änderungen bedeuten. Wie gesagt, gehört die Zuweisung von Bedeutungen schon zum Bewusstsein, wenn auch, sofern es bleibt wie bei den Affen, sich nur ein sehr eingeschränktes Bewusstsein ergäbe, weil es sich ausschließlich auf nur einen, nämlich den direkt benachbarten Änderungsschritt bezöge. Dass hinter diesem noch etwas kommt, wird nicht erfasst. Vielleicht ist die innere Welt der Affen damit ansatzweise beschrieben; es wäre für einen Menschen sehr schwierig, sich die zugehörigen inneren Empfindungen vorzustellen.
Wie geht nun das Gesamtgehirn (das irgendwie mit dem phänomenalen Ich zusammenhängt) um mit denjenigen in ihm enthaltenen neuronalen Teilstrukturen, die "andere Individuen" bedeuten? Insbesondere muss neuronal dargestellt werden, dass man selbst, rein körperlich, auch ein solches Individuum ist. Diese letztere Darstellung ist ein Teil der genannten Doppelgleisigkeit; sie ist die "Perspektive von außen", die enthalten ist in der Unikums-Perspektive "von innen".
Wie die Geschichte weitergeht, weiß ich selbst noch nicht. Aber ich habe den Verdacht, dass ich es vielleicht mit dem schon erwähnten Rückbezüglichkeitsdilemma (Circulus Vitiosus) zu tun habe, dass nämlich im Laufe der Fortführung dieses Textes herauskommt, dass ich die ganzen hier niedergeschriebenen Überlegungen nur deshalb anstellen kann, weil mein Gehirn genau diesen Typ von Bedeutungen bereitstellt. Das kann aber auch heißen, entweder dass bei anderen Zuordnungen zwischen Erregungen und Bedeutungen eine ganz andere Geschichte zustandekäme, oder aber dass ohne genau diese Zuordnung überhaupt keine menschlich erfassbare Geschichte entstünde. Letztere Möglichkeit ist allerdings unwahrscheinlich, weil derlei Zuordnungen ja gerade so eingerichtet werden, dass sie von dem zugehörigen Wesen erfasst werden können. Andererseits gibt es ja seit langem die Frage, worin denn, über die wohlorganisierten neuronalen Erregungen hinaus, der zusätzliche Nutzen des Bewusstseins besteht. Da habe ich den Verdacht, dass dieser sich in dem Rückbezüglichkeitsdilemma verbergen könnte.
Also mache ich mich mal an den nächsten Hirnbrief.
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Anmerkung vom 8. Dezember 2022:
Die direkte Fortsetzung dieses umfangreichen Textes stelle ich vorerst zurück, und bearbeite sie inzwischen. Währenddessen will ich zunächst einige kürzere Teil-Gesichtspunkte anbieten, die vielleicht etwas unterhaltsamer sind. Es wird allerdings letztlich unvermeidbar sein, dass meine Geschichte des Bewusstseins ziemlich schwerfällig wird. Einfacher ist sie nicht zu haben, und dabei ist die meinige nur ein kleiner Teil der Gesamtgeschichte, weil ich mich nicht mit der reichhaltigen Welt der Beziehungen zwischen Bewusstseinsinhalten befassen werde.

Nr 1 2023
Wissen und Lernen, Mensch und Tier
Wenn ich sage "ich weiß etwas", dann ist damit ein phänomenaler Gehalt gemeint, der in meinem Bewusstsein "aufscheint", und zwar ist es in der Regel eine Kenntnis, die ich im Moment dieser Aussage gar nicht "in echt" zu einem nutzbringenden Einsatz bringe.
Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist das anders, wenn man von einem Tier sagt, dass es etwas wisse. Dann erschließt man das aus seinem (objektiv, d.h. von mehreren Personen feststellbaren) Verhalten, oder neuerdings vielleicht sogar durch Analysen von physiologischen Hirnprozessen. Über phänomenale Gehalte kann man nichts sagen, denn diese kennt man nur von sich selbst. Nebenbemerkung: Noch nicht einmal von anderen Menschen kann ich beweisen, dass sie phänomenale Gehalte, d.h. ein Bewusstsein, haben, oder genauer, dass phänomenale Gehalte in ihnen "aufscheinen". Dennoch wird zumeist angenommen, dass jeder Mensch ein Bewusstsein habe, einfach nur, weil viele andere Eigenschaften bei mir und bei allen anderen Menschen gleichermaßen objektiv feststellbar sind. Gerade das ist jedoch für das Bewusstsein nicht möglich.
Neulich habe ich eine merkwürdige Zange gesehen, von der ich nicht wusste, wozu sie dient. Später gab mir jemand dazu die Erklärung. Das war also ein Lernvorgang. Von diesem konnte ich sagen, dass er bestenfalls eine Minute gedauert hatte. Hingegen das daraufhin entstandene Wissen über die Funktion dieser Zange hatte, vom Moment der Erklärung an, nahezu einen Ewigkeitscharakter: Auch nach vielen Monaten oder Jahren wusste ich noch, wozu eine solche Zange benutzt wird. Wie schon gesagt, ist dieses Wissen ein phänomenaler Gehalt. In einem Moment, zu dem mir klar wird, dass ich dieses Wissen habe, findet zumeist keine tatsächliche Anwendung dieser Kenntnis statt. Der Zeitverlauf von "Wissen" erstreckt sich also über sehr lange Zeiten, hingegen das Lernen, auch wenn es mehrere Wiederholungen benötigt, nimmt viel weniger Zeit in Anspruch.
Wenn ich schon von einem Mitmenschen nicht beweisen kann, dass er ein Bewusstsein hat, dann erst recht nicht von einem Tier. Eindeutig ist hingegen, dass ein Tier etwas lernen kann.
Tier und Mensch benutzen gleichermaßen einen Lernvorgang im Gehirn, den ich (im Gegensatz zu den Vorstellungen der meisten Leute) den "gewöhnlichen" nennen möchte: Zu einem Zeitpunkt liegt im Gehirn eine bestimmte neuronale Vernetzung vor. Diese kann sich in vielfältiger Weise entwickeln durch die individuelle Veränderung der Leistungsfähigkeit der Signalübertragung an einer jeden Kontaktstelle (Synapse) zwischen Neuronen. (Bei Wasserrohren entspräche dem ein veränderlicher Rohrdurchmesser). Diese Veränderungen umfassen auch die Neu-Entstehung (Durchmesser von Null an sich vergrößernd) oder auch die vollständige Unterbrechung (Durchmesser wird zu Null) von Kontaktstellen. Auch kann es kompliziertere Wechselwirkungen geben, weil jedes Neuron sehr viele Kontakte hat, und Signale, die über eine Gruppe von Synapsen in ein Neuron fließen, zur Folge haben können, dass andere Signale, die dasselbe Neuron über andere Synapsen erreichen, in ihrer Wirksamkeit verstärkt oder geschwächt werden.
Ein Lernvorgang passiert dann, wenn ein Schwall neuronaler Signale (beispielsweise von den Sinnesorganen) auf ein zugehöriges neuronales Netzwerk trifft, und besonders viele, oder besonders starke Erregungen in diesem Netzwerk ausgelöst werden. Nicht alle Details gebe ich hier wieder, aber das Wesentliche ist: Wenn an einer einzelnen Synapse der Fall eintritt, dass sowohl das ankommende Signal vor der Synapse als auch das Signal im empfangenden Neuron hinter der Synapse besonders stark ist (wobei letzteres über andere Synapsen des empfangenden Neurons hereingekommen sein kann), so wird die Leistungsfähigkeit der Signalübertragung der betreffenden Synapse verstärkt. Das ist die eigentliche Gedächtnisbildung. Dadurch kann beim nächsten ähnlichen Fall allein schon das Signal vor der Synapse ein stärkeres Signal hinter der Synapse auslösen als zuvor. Wie es mit Hilfe dieses Verfahrens zu einer Gesamtleistung eines größeren neuronalen Netzwerks kommt, kann hier nicht im Detail erklärt werden. Jedenfalls, was ein neuronales Netzwerk "erkennt", ist gegeben durch die gesamte Verteilung seiner Signalübertragungs-Leistungsfähigkeiten. Wenn ein Schwall von Signalen kommt, der besonders gut passt zu dieser Verteilung, dann wird der Schwall "erkannt". Die Aufgabe eines jeden neuronalen Netzwerks ist, im Fall einer Erkennung ein für dieses Netzwerk typisches Ensemble von Ausgangssignalen zu produzieren, und dieses z.B. an bestimmte Muskeln (oder auch an andere Teilnetzwerke des Gehirns) zu senden. Das Ganze ergibt dann eine "Prozedur", z.B. "Suppe mit dem Löffel essen", die ich erlernt habe.
Im Grunde genommen ist die ganze Netzwerk-Verknüpfung ein Aufeinandertürmen von solchen Lernprozessen, beginnend nicht nur mit der Geburt, sondern ein Großteil des Gelernten wird seit der Entstehung der Tier-Art über viele Generationen als Erbe übernommen, so dass beispielsweise eine Maus sich so verhalten kann, wie sich Mäuse typischerweise verhalten.
Das Besondere ist, dass "das Gelernte" auch dann im neuronalen Netzwerk vorhanden ist, wenn gerade gar keine zugehörigen neuronalen Signale laufen. Sozusagen kann das Tier dann gar nicht erfahren, was sein Netzwerk alles kann. Erst wenn ein geeigneter Signalschwall kommt, kann man an dessen Schicksal beim Durchlaufen des Netzwerks erfahren, wozu das Netzwerk imstande ist. Das heißt aber auch, dass nur dann, wenn beispielsweise der Löffel und die Suppe auftauchen, man erfahren kann, was das Netzwerk in diesem Fall leisten kann. Mit anderen Worten: es gibt kein natürliches Verfahren, auch ohne Suppe und Löffel irgendwie herauszubekommen, ob das Netzwerk mit diesen Dingen umgehen kann. Mit noch anderen Worten: "die Welt" muss da sein, damit man mit ihr umgehen kann. Der Affe im Zoo kann den Besucher, der ihn am Vortag geärgert hat, beim nächsten Besuch wiedererkennen und ihm daraufhin eine Ladung Fäkalien ins Gesicht schleudern. Er kann sich jedoch nicht diesen Menschen vorstellen, d.h. sich an ihn "erinnern", um sich etwa eine Racheaktion zu überlegen. Der Affe "weiß" nicht, dass dieser Mensch existiert, so lange er ihn nicht sieht, obwohl in seinen Netzwerkkontakten die Möglichkeit von dessen Erkennung enthalten ist.
Das ist also das "gewöhnliche Lernen" und das "gewöhnliche" (in der Wissenschaft als "prozedural" bezeichnete) Gedächtnis, das man in jedem Gehirn von Mensch und Tier vorfindet. Ein Bewusstsein kommt dabei nicht vor; alles ist naturwissenschaftlich zumindest im Prinzip verständlich. Radfahren zu können ist ein Beispiel. (Man muss als Mensch die Tatsache, dass man weiß, dass man radfahren kann, nicht verwechseln mit der eigentlichen, erlernten, dem Bewusstsein unzugänglichen Fähigkeit, wie man das macht.) Eine weitere Besonderheit ist, wenn man etwas gelernt hat, dass dann die Netzwerkverknüpfungen in der vorigen "ungelernten" Version nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn man radfahren kann, dann kann man sich nicht mehr verhalten wie jemand, der das nicht kann und es erlernen will (wohlgemerkt in echt; nicht simuliert).
Die meisten Leute, wenn sie das Stichwort "Gedächtnis" hören, denken jedoch an "Erinnerung", d.h. ein vergangener Vorgang scheint im Bewusstsein auf. Sogleich bemerkt man, dass man sich nicht unbewusst an ein bestimmtes Ereignis erinnern kann. Im Gegenteil: Wenn man sich nicht erinnert, wo man den Autoschlüssel abgelegt hat, dann ist man der Ansicht, ihn unbewusst irgendwo hingelegt zu haben. Weiterhin: während ich meine Fähigkeit, mit Löffel und Suppe umzugehen, nur abrufen kann, nachdem Löffel und Suppe aufgetaucht sind, muss ich keinerlei echten gegenwärtigen Sinneskontakt zu den Türmen des Fridolinsmünsters in Säckingen haben, um, ausgelöst durch die Erzählung einer düsteren Geschichte, mich an diese Türme zu erinnern. Das mir zugängliche Ergebnis dieser Erinnerung ist nicht etwa eine bloße komplexe neuronale Erregungsverteilung in meinem Gehirn, sondern deren Bedeutung, nämlich eben jene eher bildhafte Darstellung der Türme, also ein phänomenaler Gehalt.
Eine weitere Besonderheit ist, dass das prozedurale Gedächtnis (nicht umsonst heißt es so) vor allem zeitliche Abläufe betrifft, die ungelernt sehr viel schlechter ablaufen würden als gelernt, während eine Erinnerung eher einen einzelnen Sachverhalt betrifft, bei dem der zeitliche Ablauf eine geringere Rolle spielt. Selbst wenn ich mich an den Nachbarn erinnere, als er im Hof mit der Axt Holz spaltete, dann ähnelt meine Erinnerung nicht einer Art Film dieser Tätigkeit, sondern eher einem Standfoto (oder vielleicht mehreren davon), auf dem der Nachbar in einer typischen momentanen Haltung, mit hoch geschwungener Axt, erscheint.
Man hat also zwei Sorten von Gedächtnis: Erstens das prozedurale, das ohne Bewusstsein arbeitet, das schwierige Aktionen durch Übung zu erlernen erlaubt, und das nur arbeiten kann, wenn die zugehörigen äußeren Umstände den Sinnesorganen tatsächlich zur Verfügung stehen. Es geht nicht, wenn man sich diese Umstände nur vorstellt; das Fahrrad muss in echt vorhanden sein, damit das prozedurale Gedächtnis des Radfahren-Könnens zur Anwendung kommen kann. In den meisten Fällen ist das Ergebnis eines Gedächtnisabrufs ein koordiniertes Ensemble von Muskelbewegungen, mit vielen sensorischen Rückmeldungen, wobei das Gedächtnis den Umgang mit diesen Rückmeldungen auch mit umfasst. Beispielsweise beim Radfahren kommen Rückmeldungen von den Gleichgewichtsorganen in den Ohren, die dann (in erlernter Weise) zu kleinen Korrekturen der Lenkerbewegung führen. Obwohl eine gegenwärtige Leistung von der Einübung in der Vergangenheit abhängt, besteht bei diesem Gedächtnistyp keine Möglichkeit, die Rolle von "Vergangenheit" irgendwie während des prozeduralen Gedächtnisabrufs auszunutzen. In jedem Moment ist ein prozeduraler Abruf ein rein gegenwärtiger Vorgang. Der Abruf "kennt" sozusagen nur die jeweils gegenwärtigen Umstände sowohl in der Außenwelt als auch im Nervensystem. (Wohlgemerkt ist hier nicht gemeint, dass man sich an die früheren Umstände des Erlernens des Radfahrens erinnert. An den eigentlichen prozeduralen Gedächtnisinhalt, d.h. "wie der Erfolg zustande kam", kann man sich in keiner Lernphase erinnern.)
Zweitens gibt es das (in der Wissenschaft als "episodisch" bezeichnete) Gedächtnis, mit dem man sich an vergangene Situationen erinnern kann. Wie dieser Typ von Gedächtnis neurotechnisch organisiert ist, wird hier nicht dargelegt, ist aber einer technischen Speicherung ähnlich. Man speichert in der Gegenwart eine kurzzeitige Erregungsverteilung in einem Synapsen-Netzwerk ab, und später, dann also auch wieder in der Gegenwart, ruft man diese wieder ab, indem man sie wieder in eine Erregungsverteilung umwandelt. Die Ergebnisse derartiger Erinnerungen erscheinen als phänomenale Gehalte im Bewusstsein. Um einen Gedächtnisinhalt abzurufen, braucht es bei diesem Typ von Gedächtnis nicht die Vorgabe von realen zugehörigen Umständen, mit denen das Nervensystem dann zu arbeiten beginnt, und die es bis hin zu einem Ergebnis weiterentwickelt. Vielmehr genügt ein kleines unscheinbares Signal, wie beispielsweise der momentane Geruch eines Industrie-Öls, der eine reichhaltige bildhafte Erinnerung an die Grundschule vor vielen Jahrzehnten auslöst, weil in dieser Schule die Dielen mit einem ebenso riechenden Öl behandelt worden waren. Auch "die Vergangenheit" wird mitgeliefert etwa in Form einer Jahres-Angabe. Es entfällt die Möglichkeit, über Muskelbewegungen wenigstens ein bisschen zu erfahren darüber, was das Nervensystem während des Vorgangs der Erinnerung tut, denn es finden keine Bewegungen statt.
Die reine Betrachtung von Erregungsvorgängen erlaubt bei keinem der beiden Gedächtnistypen, zu erkennen, welche Rolle die Vergangenheit für das Nervensystem spielt. Das prozedurale Gedächtnis "hangelt" sich kontinuierlich von Gegenwart zur unmittelbar darauffolgenden nächsten Gegenwart, ohne berücksichtigen zu müssen, was in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit passiert ist. Dass man per Bewusstsein über Zeitabläufe nachdenken kann, ist kein Teil der Mechanismen, die dem prozeduralen Gedächtnis zugrundeliegen. Beim episodischen Gedächtnis ist hingegen "Vergangenheit" ein erinnerter (phänomenaler) Inhalt, der irgendwie getragen wird von einem Speicherabruf, also einem gegenwärtigen Erregungsvorgang. Ohne die Zuweisung der Bedeutung "Vergangenheit" ist einer solchen Erregung nicht zu entnehmen, dass sie etwas mit Vergangenheit zu tun hat.
Wenn man nur neuronale Erregungen anschaut, dann sieht man, dass ein Nervensystem grundsätzlich seine gegenwärtigen Erregungen nicht irgendwie in einer Weise gestalten kann, dass diese "in der Vergangenheit stattfinden". Schon dieser Satz erscheint widersinnig. Andererseits: wenn es im Gehirn nichts weiter gibt als gegenwärtige neuronale Erregungen, woher kommt denn dann die Idee, dass es eine Vergangenheit gibt? Freilich gibt es Speicher. Aber dass ein Speicher Vergangenes enthält, ist nirgends ersichtlich.
Wenn ich über diese Dinge mit anderen Leute rede, durchaus auch mit wissenschaftlich Gebildeten, dann leuchtet ihnen der letzte Satz zunächst nicht ein: man könne ja ein Video gemacht haben, in dem Datum und Uhrzeit zu sehen sind, und damit ließe sich ja beweisen, welche vergangene Zeit zu einer bestimmten Erinnerung gehört. Allerdings müsste man dazu beweisen, dass dieses Video etwas Vergangenes zeigt, und man müsste beweisen, dass die Uhrzeigerstellung und Datums-Schriftzeichen etwas Vergangenes bedeuten. Man merkt erst, dass man einem Zirkelschluss aufsitzt, wenn man sich klar macht, dass man sich damit immer wieder auf andere Speicher und Bedeutungszuweisungen bezieht, die traditionell scheinbar einen unverrückbaren Zusammenhang zu "Vergangenheit" haben, der sich aber naturwissenschaftlich nicht feststellen lässt.
"Wissen" ist die Zuweisung von Bedeutungen (einschließlich der Bedeutung "Vergangenheit") zu einer aus einem neuronalen episodischen Speicher abgerufenen Erregung. Da derartige Zuweisungen keine der Naturwissenschaft angehörigen Beziehungen herstellen, hat das "Wissen", und damit die ganze Naturwissenschaft, kein naturwissenschaftliches Fundament. In diesem gedanklichen Kreisverkehr findet das Bewusstsein sein behagliches Nest, zur Erheiterung der Hirnforscher.
Dennoch hat die Naturwissenschaft es zustande gebracht, irgendwie "Vergangenheit", oder vielmehr ganz allgemein "die Zeit", in die Wissenschaft hineinzumogeln. Es funktioniert leidlich gut, wenn man keine Extremfälle untersucht. Die Tiere kommen jedoch bestens ohne all dieses zurecht: sie wissen nichts von Vergangenheit, und eigentlich "wissen" sie gar nichts im menschlichen Sinne. Aber auch ohne "Wissen" kann man erstaunliche Fähigkeiten haben, wie der Mensch spätestens erkennt, wenn er sich die Fäkalien aus dem Gesicht wischt, die der Affe zu Recht auf ihn geschleudert hat.

Nr 2 2023

Unendlich langes Leben, immer wieder unterbrochen
Eine lebende Struktur, egal ob Pflanze oder Tier, könnte ja eigentlich unendlich lange leben, und sich dabei weiterentwickeln. So ist es aber nicht; alles Lebende stirbt irgendwann, sei es durch feindliche Einwirkung, die z.T. insofern einen systematischen Charakter haben kann, als manche Pflanzen oder Tiere regelmäßig von anderen gefressen werden. Der Tod kommt aber auch dann, wenn keine Einflüsse von außen den Organismus zerstören. Man führt das darauf zurück, dass ein großer Teil der Zellen im Organismus immer wieder erneuert werden muss, wofür Zellteilungen erforderlich sind, und für diese muss jedes Mal der genetische Kode ausgelesen und kopiert werden. Durch die Aneinanderreihung von Kopiervorgängen kommt es zunehmend zu Kopierfehlern, die irgendwann so zahlreich und einflussreich werden, dass der ganze Organismus nicht mehr lebensfähig ist. Letztlich kann man auch das Auftreten von Kopierfehlern als Einfluss "von außen" auffassen: Eine einzelne Bindung zwischen zwei Molekülen wird nicht richtig gebildet, aufgrund einer lokalen etwas zu hohen momentanen Temperatur im Rahmen des ohnehin ständig laufenden Temperaturgebrodels. Mit "von außen" meine ich hier, dass die Grenze einer Betriebsregel überschritten wurde, d.h. ein solcher Vorgang gehört nicht zu den Betriebsregeln.
Also gelangt die sehr komplexe regelhafte Aneinanderreihung von physiologischen Prozessen in einem lebenden Organismus irgendwann an einen Abbruch. Oder es passiert eine Zerstörung von außen. Der Natur ist das alles egal; sie macht einfach weiter mit den Zerfallsprodukten. Ich habe keine Antwort auf die Frage, wem das nicht egal ist. Vielmehr gehe ich hier davon aus, dass ein komplexer biologischer Organismus Wege finden muss, weiterzuleben. Oder es ist eben umgekehrt: weil manche Strukturen zufällig einen solchen Mechanismus gefunden haben, sind sie überhaupt nur bekannt als Kategorie in der Natur. Eine enorm komplexe Struktur, die nur 1 Millisekunde lang ein einziges Mal existiert, würde sich überhaupt nicht hervorheben unter Milliarden von ebenso komplexen, ebenso kurzlebigen, aber anderen Strukturen. Ohne einen speziellen Mechanismus für diesen Zweck ist die Wahrscheinlichkeit für das wiederholte Entstehen der (ungefähr) selben hochkomplexen Struktur quasi Null. "Leben" ragt heraus als etwas von langer Dauer, obwohl es ständig intensiv mit der Umgebung wechselwirkt. Freilich kann auch ein Fels tief in der Erde langlebig sein, aber nur, weil dieser das Risiko ständiger stofflicher Umsetzungen gar nicht erst eingeht.
Die Besonderheit "lange Dauer" des Lebens bedarf einer genaueren Betrachtung, weil es in der Natur eigentlich keinen solchen Begriff gibt. Vielmehr gibt es für die Natur in jedem Moment immer nur eben diesen Moment, und dass dieser mit einer unmittelbar stattfindenden Änderung (von irgendwas) zu tun hat. Es gibt keinen Überblick über längere Zeiten. Wenn sich über längere Zeiten nichts ändert, dann stellt die Natur das in jedem Moment neu fest, um es aber sofort danach sozusagen wieder zu vergessen. Alles, was nicht zum jeweiligen Moment gehört, existiert nicht. Deshalb gibt es keine Idee, wann eine Periode ohne Änderungen begonnen hat, und schon gar nicht, wie lange sie noch andauern könnte. Wenn das alles so ist, braucht man überhaupt keinen Zeitbegriff.
Es ist gewöhnungbedürftig, sich Naturvorgänge "aus der Sicht der Natur" vorzustellen. Deshalb muss ich zunächst zu der gewöhnlichen menschlichen Sichtweise zurückkehren, um zu überlegen, wie man weitermacht nach einem Abbruch. Man muss das Wesentliche für einen spätere Fortsetzung abspeichern, bevor es zum Abbruch kommt. Also zeugt man Kinder; der genetische Kode wird in dem Kind abgespeichert. Als Speicherinhalt überdauert er eine Unterbrechung durch den Tod, bis das Auslesen des Speichers die Fortsetzung des dynamischen Vorgangs (d.h.des Lebens, nun aber im Kinde) erlaubt. Obwohl es vielleicht trivial erscheint, muss man doch betonen, dass die Details, die man für eine solche Fortsetzung benötigt, nämlich die Daten im genetischen Kode, nicht in der Natur vorfindet. Vielmehr muss man sie mitbringen.
Die Natur hat Hunderte von Millionen Jahren, eher Milliarden, gebraucht, um dieses Verfahren zu entwickeln. Es erlaubt, im Laufe von vielen Generationen, d.h. nach vielen Unterbrechungen, die Abspeicherungen und damit den ganzen Organismus, allmählich zu verbessern, was in einem Einzelschritt, d.h. der Lebenszeit eines Individuums, nicht zu schaffen gewesen wäre. Eine neue Pflanzen- oder Tierart kann nicht in der Lebenszeit eines einzelnen Exemplars entstehen.
Und nun konnte auf dieser Grundlage, nachdem Gehirne bereits eine Rolle spielten, in nur 5 Millionen Jahren ein Verfahren entwickelt werden, in dem in gewisser Weise dieselben Prinzipien erneut zur Anwendung kamen: Es ist ein Verfahren, das erlaubt, im Gehirn laufende Prozeduren nach Unterbrechungen später wieder aufzugreifen und fortzusetzen, auch wenn in der Außenwelt keine Hinweise zu finden sind, wie man weitermachen muss. Darüber hatte ich schon in den Hirnbriefen 42/43;2009 und 2;2015 geschrieben. Manch einer mag die Rolle dieses Schrittes an sich selbst erfahren können, sofern sie oder er imstande ist, unter der Dusche den Körper völlig "automatisch", oder "absentminded", zu waschen (so etwas ist eine Prozedur), dabei aber lückenlos an ganz andere Dinge zu denken. Wenn dann in der Mitte dieser Tätigkeit das Telefon klingelt, und man nimmt das Gespräch an, dann kann man danach das Waschen nicht fortsetzen, weil man nicht weiß, bis wohin man gekommen war. Freilich ist klar: man hätte die erreichte Wasch-Etappe "episodisch" abspeichern müssen, als man das Telefon klingeln hörte. Nach der Unterbrechung hätte man den Speicherinhalt abgerufen und hätte mit dessen Hilfe den Waschvorgang fortgesetzt.
Dasselbe gilt für den Techniker, der die Räder von Eisenbahnwaggons prüft: Wenn er eine Pause macht und die Arbeitsstätte verlässt, kann er danach einem Rad nicht ansehen, ob er es schon geprüft hat. Er muss irgendein Merkmal abspeichern. Er braucht das jedoch nicht, wenn er hintereinander weg die Räder der Reihe nach prüft.
Von allerhöchster Wichtigkeit in diesem Zusammenhang ist der Umgang mit Unterbrechungen für die Entwicklung des Ackerbaus: Die Körner, die in den wärmeren Jahreszeiten in den Boden fallen, sind nach kurzer Zeit nicht mehr sichtbar, und von Unkraut überwuchert. Aber im nächsten Jahr entstehen dort Pflanzen, deren Körner für die Ernährung von Interesse sind. Das Besondere sind nicht diejenigen Körner, die im Herbst direkt von den Pflanzen herunterfallen, so dass im nächsten Jahr wieder dort diese Pflanzen wachsen. So etwas haben allerlei Tiere schon längst gemerkt. Hingegen ist der wichtige Fall, dass jemand die Körner ganz woanders hinträgt (und sie dort alsbald nicht mehr zu sehen sind), und dass dann dort ein halbes Jahr später die interessierenden Pflanzen wachsen. Diese Situation kann man nur dann systematisch nutzen, wenn man sich daran erinnert, dass, und wohin man die Samen im vergangenen Jahr verschleppt hat.
Besitzt man kein Verfahren für eine episodische Abspeicherung, dann sind alle einmal unterbrochenen Prozeduren für immer beendet, sofern sich in der Außenwelt keine Hinweise finden, was als nächstes zu tun ist. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass Tiere kein episodisches Gedächtnis anlegen können (siehe Hirnbrief 1;2023), allein schon wegen der Gefahr, die Inhalte mit realen Situationen in der Welt zu verwechseln, eben weil gerade diese Inhalte gedacht sind als Ersatz für fehlende Außenweltsignale. Dass Tiere ein gutes Gedächtnis haben, braucht man deshalb nicht anzuzweifeln, aber sie brauchen eine Außenweltvorgabe, um daran einen bestimmten Sachverhalt wiederzuerkennen. Der Affe kann sich nicht, durch einen Abruf aus einem episodischen Gedächtnis, an den boshaften Zoobesucher erinnern, um sich einen Racheakt zu überlegen. Aber sobald dieser erneut auftaucht, kann er ihn zwischen sehr vielen anderen Personen wiedererkennen, und ihm sogleich eine gut gezielte Ladung Fäkalien ins Gesicht schleudern.
Die Geschichte "vom Affen zum Menschen" verläuft noch über einen Zwischenschritt (siehe Hirnbrief 3;2020), der mit einer weiteren Rolle der Hände zu tun hat, und der erklärt, warum gerade die Affen, und nicht die vielgepriesenen Raben, Vorläufer der Intelligenzbombe "Mensch" geworden sind. Diesen Schritt überspringe ich hier. Die wesentliche Aussage ist, dass die großen Intelligenzleistungen des Menschen nicht zustandegekommen sind durch irgendwelche extra entwickelten Höchstleistungsprozeduren, sondern durch die Einrichtung des episodischen Gedächtnisses, das erlaubte, unterbrochene Prozeduren später fortzusetzen. Dadurch war der Weg frei für quasi unendlich langdauernde  Prozeduren, mit denen natürlich sehr viel komplexere Probleme bearbeitet werden können als mit Prozeduren, die nur so lange laufen können, bis das nächstbeste absolut dringende Ereignis einen Abbruch erzwingt. Umgekehrt erlaubt das neue Verfahren, den Bewegungsbeginn eines aus meiner Hand herunterfallenden Klotzes als "aus dem Nichts" entstanden anzusehen, d.h. ohne die vorausgegangene Lockerung der Handmuskeln in Betracht zu ziehen. Dann muss man allerdings einen Zeitpunkt benennen (die Naturwissenschaft benutzt dafür "Anfangsbedingungen"). Das kann die Natur nicht; für die Natur ist alles die Folge dessen, was unmittelbar davor passierte.
Irgendwie hängt genau dieser Entwicklungsschritt zum Menschen auch mit der Entstehung des Bewusstseins zusammen, aber bis hierhin kann die Geschichte auch einleuchten, wenn man nur neuronale Vorgänge auf rein naturwissenschaftlicher Grundlage, ohne Bewusstsein, betrachtet.
Vertrackt ist allerdings, dass man genau das Bewusstsein braucht, um diese Betrachtung überhaupt anzustellen. Das Bewusstsein schließt die Naturwissenschaft mit ein; man kann nicht unbewusst Naturwissenschaft betreiben. Auch der obige Textteil über das neuronale Unterbrechungs-Management müsste eigentlich aus der "Sicht der Natur" geschrieben werden. Dabei wäre dann der abgerufene Inhalt eines episodischen Gedächtnisses zwar eine neuronal zum Einsatz kommende, nützliche Erregungsverteilung, die aber keinerlei Bedeutung trüge; von "Vergangenheit" wäre nicht die Rede.
Es musste also im Lauf von Millionen oder Milliarden von Jahren erst das Leben, dann das Gehirn und dann das Bewusstsein mit seiner Fähigkeit, "zu erkennen", entstehen, um in einem gedanklichen Kreisverkehr genau diesen Verlauf zu erkennen. Nun betone ich ja in meinen Hirnbriefen, dass der Zeitbegriff eine der Bedeutungen ist, die das Bewusstsein bereitstellt, andererseits das Bewusstsein zustandekommt durch die Fähigkeit, unterbrochene Prozeduren fortzusetzen. Wohlgemerkt kann man diese Zusammenhänge nicht wirklich verstehen. Aber wenn das schon so ist, dann könnte der Zeitbegriff ebensogut eingeschleppt worden sein durch den anderen mit Unterbrechungen befassten Prozess-Typ, nämlich das Leben.

Nr 3 2023

Gott und Affe
Der Gültigkeitsbereich der Naturwissenschaft ist enger als gemeinhin angenommen, so dass viel Platz ist für Vorgänge, die die Naturwissenschaft nicht erklären kann. Man schaue sich das Gehirn nur einmal aus seiner eigenen Innenperspektive an. Beispielsweise eine Ratte hat in Teilen ihres Gehirns Prozeduren angelegt, die die Erkennung und den Umgang mit Artgenossen regeln. In gewissem Sinn ist eine andere Ratte ein wohlorganisierter Teil des Gehirns der Ratte selbst. Hingegen diese Ratte selbst besteht "gehirnmäßig" aus ihrem gesamten Gehirn. Das hat zur Folge, dass eine Ratte zwar für die Abwicklung des Soziallebens Ratten erkennen und von anderen Tieren unterscheiden kann, aber sie hat keine Möglichkeit, zu erkennen, dass sie selbst eine ebensolche Ratte ist wie diejenigen, die sie erkennt. Sie selbst ist aus ihrer Innensicht ein Unikum. Ob sie diesen Sachverhalt erkennt, d.h. ob er in Form einer Empfindung in ihr aufscheint, ist damit nicht gesagt.
Aber ich, als Mensch, kenne diese Unikum-Empfindung sehr wohl in Form meines "ich", das in meinem Bewusstsein aufscheint. Ich kann es nur selbst sein, auch wenn andere Menschen mir per Sprache mitteilen, dass sie ebenfalls ein "ich" sind. Von dieser Empfindung weiß ich nicht, was vor der eigenen Geburt mit ihr war, und was aus ihr nach dem Tod wird. Gab es da einen Menschen (diesen als einen anderen zu bezeichnen ist schwierig), oder wird es ihn geben, der genau wie jetzt ich, eine "ich"-Empfindung hat oder hatte, die sich genau so anfühlte wie diejenige, die ich jetzt habe? Wohlgemerkt meine ich damit nicht, wie gerade gesagt, einfach jemanden anders. Die ich-Empfindung steht im Gegensatz zu der naturwissenschaftlichen Sicht, nämlich dass sowohl ich als auch andere Leute gleichermaßen Menschen sind. Wie auch immer: Jedes Tier, das den Umgang mit Artgenossen über ein Nervensystem steuert, ist im genannten Sinne ein Unikum.
Die Biologen haben keine Antwort auf die Frage, warum gerade die Affen die Vorläufer des Menschen sind. Warum denn nicht die vielgepriesenen ach so intelligenten Raben? Dann wären wir halt rabenähnlich geworden. Hingegen wenn man einmal beim Affen angekommen ist, dann weiß jedes Schulkind, dass die Entwicklung von da aus zum Menschen geht. Die Affen, nicht aber die Raben, haben nämlich in der stammesgeschichtlichen Entwicklung einen Weg gefunden, mit dem Unikumproblem zurechtzukommen.
Man kann sich gut vorstellen, was einem Tier widerfuhr, das in der stammesgeschichtlichen Entwicklung zum Affen wurde, wenn man sich einen Roboter vorstellt, der mit einer Greifzange an einem langen Arm, und einer Videokamera ausgestattet ist, und der so eingerichtet ist, dass er die Greifzangen optisch erkennt, und er deren Bewegungen mit Hilfe der Videosignale steuert. So kann der Roboter einige "Hantierungen" durchführen. Ein derartiges Gerät kann heutzutage gebaut werden. Wenn nun aber ein baugleicher zweiter Roboter seine Greifzange ins Gesichtsfeld des ersten bringt, dann entsteht ein Steuerungs-Chaos, weil die zweite Greifzange als steuerungstechnisch bedeutsam erkannt wird, aber den Bewegungskommandos des ersten Roboters nicht gehorcht. So etwas von dieser Art hat das zum Affen werdende Tier in seiner Entwicklungsgeschichte erlebt, und es musste erhebliche neurotechnische Umorganisationen vornehmen, um mit fremden Affenhänden in seinem Gesichtsfeld zurechtzukommen, denn solche Situationen waren nicht selten. Zunächst erscheint es ja als ein Nachteil, als hauptsächliches Hantiergerät (welches bei den meisten Tieren das Maul oder der Schnabel ist) Hände an langen Armen zu benutzen. Einer Ratte kann es ja nicht passieren, dass sie das Maul einer anderen Ratte für ihr eigenes Maul hält. Sie kann nicht erkennen, dass ihr eigenes Knabbern an einem Wurstzipfel eine fundamentale Ähnlichkeit hat mit derselben Aktion, ausgeführt von einer anderen Ratte. Hinzu kommt die vereinfachende Situation, dass ohnehin das eigene Maul sich gegenüber den eigenen Augen nicht verschieben kann. Die Affen mussten also zusätzlich noch mit der Schwierigkeit zurechtkommen, dass ihr neues Hantiergerät nicht fest mit den Augen (über den Schädel) verbunden ist.
Was die Affen nun anfangen mit der Fähigkeit, auch fremde Hände als Hände zu erkennen, soll hier nicht erörtert werden. Vielmehr ist nur von Interesse, dass hochstrukturierte Handbewegungen, die der Affe selbst neuronal veranlassen kann, ebensogut zustandekommen können ohne seine eigenen neuronalen Kommandosignale. Dahinter steht die neue Erkenntnis, dass Handlungen, für die ich die Kommandosignale selbst herstellen könnte, auch von anderen Wesen ausgeführt werden können. Da ist der Gedanke naheliegend, dass diese anderen Wesen vielleicht nicht nur Affen sein können: Ich sehe, wie etwas geschieht, was so aussieht wie etwas, was ich auch tun könnte. Das kommandoführende Wesen könnte jedoch auch umfangreichere Fähigkeiten haben als ich, so dass ich selbst nicht weiß, wie ein Vorgang zustandekommt. So entstand letztlich die allgemeine Vermutung, dass ein jedes Geschehen in der Welt irgendwie in derselben Weise zustandekommt wie wenn ein anderes Lebewesen sie veranlasste. Je umfangreicher das Spektrum möglichen Geschehens ist, desto mächtiger muss dieses Wesen wohl sein.


Nr 1 2024

Heute,gestern, vorgestern
Schon seit einigen Monaten habe ich keinen Hirnbrief geschrieben, weil ich festhänge mit der Frage, die schon im Hirnbrief 1/2022 ("Zwei Gedankenstränge)" angesprochen wurde: Wie kann ich, als Lebewesen, das nach rein naturwissenschaftlichen Prinzipien beschrieben wird, und das demzufolge nur in der Gegenwart lebt, Konzepte wie "gestern" oder "vorgestern" entwickeln? Gedächtnis, vor allem vom episodischen Typ, kommt sofort in den Sinn, aber das kann so einfach nicht gehen, denn ein Abruf eines gespeicherten Inhalts ist ja auch nur ein gegenwärtiger Vorgang. Wenn ich zwei Tage nach dem Abspeichern eines Außenweltereignisses diesen Speicherinhalt wieder abrufe, ist das Ziel, dass dem ausgelesene Inhalt irgendwie das Signal (oder die Vorstellung) "vorgestern" angehängt wird. Muss ich den Hinweis darauf schon beim Einspeichern mit abspeichern, oder entsteht das Signal/die Vorstellung erst beim Wieder-Auslesen?
Es würde ja in einem ersten Schritt schon genügen, wenn man erkennen könnte, dass verschiedene Abspeicherungen irgendwie geordnet werden können. Das soll heißen (wenn man schon weiß, was dabei herauskommen soll), dass man erkennen kann, dass die Abspeicherung Y später stattgefunden hat als die Abspeicherung X. Beim Wiederauslesen des Speicherinhalts muss die gefundene Ordnung schon vorliegen und erkennbar sein. Wie in einem materiell vorliegenden Filmstreifen wäre die Aufreihung der Einzelbilder von Anfang bis Ende in der Gegenwart, d.h. beim Auslesen, verfügbar, und man könnte dann dieser Ordnung die Bedeutung "Zeit" zuweisen. Damit würde man sich in das "Reich der Bedeutungen" begeben. Dieses Reich ist das Bewusstsein.
Was für Zeitsignale kommen in Frage? Ich mache es mir einfach, und beschränke die Betrachtungen über Zeitliches nur auf  ein "Mitternachtssignal", das ich mit Hilfe meiner Sinnesorgane dem Sternenhimmel entnehme, und das besagt, dass ein neuer Tag beginnt. (Für diese Betrachtung nehme ich an, dass der Himmel niemals durch Wolken verdeckt ist.)
Nun ist der 15. März. Das weiß ich jedoch nicht, weil ich den Entwicklungsstand meiner Kenntnisse von vor 9000 Jahren voraussetzen will. Vielmehr gleicht jeder Tag jedem anderen, wenn auch jeden Tag Unterschiedliches passiert, aber es gibt immer wieder nur "Heute" oder "die Gegenwart". Da kann beispielsweise Winter sein; man merkt, dass es heute kalt ist, aber dass es gestern auch kalt war, steht nicht zur Verfügung.
Nun aber sind 22 Rosensträucher zu beschneiden. Am 15. beende ich die Tätigkeit nach dem fünften Strauch. Ich speichere "fünfter Strauch erledigt" ab. Dass dieses am gegenwärtigen Tag geschieht, ist alternativlos und muss nicht mit abgespeichert werden. Später, nach der genannten Abspeicherung, tritt das Mitternachtssignal auf, d.h. es beginnt ein neuer Tag. Dass da zuvor jener Speicherinhalt erzeugt wurde, ist in diesem Moment neuronal nicht verfügbar, denn normalerweise wird man nicht nach jedem Mitternachtssignal nachschauen, ob Inhalte in den Speichern sind, denn man will sie in diesem Moment gar nicht weiterverarbeiten. Vor allem ist ja der genannte Speicherinhalt nicht der einzige, der an einem Tag abgelegt wurde. Vielmehr sind es Dutzende oder gar Hunderte.
Die umfangreiche Prozedur "Rosen schneiden" mit allen Beobachtungs- und Verhaltensdetails wird angetrieben durch eine zugehörige Motivationsprozedur, die von wesentlich geringerem Umfang ist, und die wiederum von weiteren Umständen angeworfen wird. Diese wird nun am 16. März, also am Folgetag, erneut angeworfen, und damit beginnt eine Suche nach Start-Umständen. Also wird der Speicherinhalt "fünfter Strauch erledigt" ausgelesen. Mit dieser Angabe allein könnte ich durchaus weiter arbeiten. Hier geht es aber darum, dass die Angabe auch ein Signal "gestern" enthalten soll.
Zunächst einmal: Wenn es nur pauschal zu unterscheiden gäbe zwischen Gegenwart und Vergangenheit ohne weitere Zeitangaben, dann könnte man alle neuronalen Erregungen, die durch das besondere neuronale Manöver "Speicher auslesen" entstanden sind, mit der Bedeutung "Vergangenheit" belegen. Das ist dann einfach eine besondere Kategorie von Erregungen, die ebenso wie andere Kategorien, z.B. "visuelle Signale" oder "auditive Signale", jeweils besonders zu behandeln sind. Der Haupt-Unterschied wäre, dass man nicht einfach, dem Inhalt des ausgelesenen Signals entsprechend, Motorkommandos daraus herleiten darf, weil sie ja nicht in die gegenwärtige Zeit gehören.
Immerhin kann man zwischendurch festhalten, dass schon diese einfache Bedeutungszuweisung zum einen mit dem Bewusstsein, und zum anderen mit dem Gedächtnis vom episodischen Typ zusammenhängt.
Für jemanden, der/die den schnellen Zusammenhang liebt: Das episodische Gedächtnis bildet ein Bindeglied. Dieses Gedächtnis ("ich erinnere mich"; im Gegensatz zum Radfahren-Lernen) hängt insofern mit dem Bewusstsein zusammen, als man meint, den Autoschlüssel "unbewusst" irgendwo abgelegt zu haben, wenn man sich an die betreffende Stelle nicht erinnert. Andererseits hängt dieser Typ von Gedächtnis ganz offensichtlich mit "Zeit" zusammen; ohne dieses gäbe es (wohlgemerkt im Bewusstsein) keine Vorstellung von Vergangenheit. Hingegen der Abruf der Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses beim Radfahren ist immer unbewusst; durch bewusstes Drehen des Fahrradlenkers kann man das Gleichgewicht nicht halten. Das Ablegen des Autoschlüssels kann man durchaus rein prozedural abwickeln, wenn man ihn immer an derselben Stelle ablegt. Nur dann kann man ebenso mit einer anderen Prozedur "Autoschlüssel nehmen" auch das Wieder-Aufnehmen ganz ohne Bewusstsein rein "automatisch" abwickeln.
Nun aber weiter mit dem Problem "gestern". Ich habe also in der damaligen Gegenwart den Speicherinhalt "fünfte Rose erledigt" erzeugt, natürlich ohne zu wissen, oder festzulegen, wann ich diesen abrufen werde. Er enthält also keinerlei Zeitangabe. Als ich ihn schließlich abrufe, sind in der Zwischenzeit zwei Mitternachtssignale vorübergegangen. Die Abspeicherung hat also vorgestern stattgefunden. Ich habe jedoch nicht, ab dem Tag der Abspeicherung, damit begonnen, die Anzahl der Mitternachtssignale zu zählen. So ein Verfahren könnte vielleicht existieren (aber schon das ist nicht einfach), wenn es nur eine einzige Abspeicherung gäbe. Jedoch für Hunderte von Speicherungen, die an verschiedenen Tagen stattfanden, kann nicht getrennt für jeden Fall eine Zählung beginnen.
Aber vielleicht kann automatisch ein sparsames Zusatzsignal als Anhang mit abgespeichert werden, das sich von allein allmählich abschwächt, so dass an seiner Größe "gestern" von "vorgestern" gut unterschieden werden kann, "vorgestern" von "vorvorgestern" schon schlechter, und "vor 6 Tagen" und "vor 7 Tagen" schon nicht mehr; dann wird der Fall pauschal als "vor ungefähr einer Woche" eingestuft.
Man erhält dann bei jedem Speicherabruf eine Angabe von der Art "vorgestern", keineswegs aber von der Art "15. März". Nur habe ich, um die Sache zu erklären, schon vorgegriffen, denn zunächst, sofern dieses Verfahren eingerichtet ist, liegen nur diese mehr oder weniger abgeschwächten Anhänge vor. Mit einem solchen System kann man weiterhin stets in der jeweiligen Gegenwart leben, und dabei gelegentlich Gedächtnisinhalte abrufen, die ein jeder einen Anhang hat, der unterschiedlich "vernebelt" oder anderswie abgeschwächt sein kann. Wenn man denselben Inhalt später erneut abruft, dann ist er stärker abgeschwächt, diesen Unterschied kann man allerdings aus keinem gegenwärtigen Moment heraus bemerken. Man kann nur bemerken, dass es im jeweils gegenwärtigen Moment unterschiedliche Abschwächungen der Anhänge gibt, d.h. dass die Zeitpunkte mehrerer Abspeicherungen unterschiedlich weit zurück liegen. Aber dass diese Abschwächungen als Zeitangaben aufgefasst werden sollen, ist noch nicht bekannt.
Wenn nun die Geschichte hier endete, dann könnte man zumindest verstehen, wie die Konzepte "gestern" und "vorgestern" etc. zustande kommen, die immer vom jeweiligen Jetzt aus gezählt werden, wohlgemerkt ohne dass man diese Angaben nun tatsächlich mit "Zeit" in Verbindung bringen müsste. Was man damit allerdings weiterhin nicht erfassen kann, ist, dass das abgespeicherte Ereignis, das ich beim Auslesen mit der Angabe "gestern"vorfinde, die Angabe "vorgestern" erhält, wenn ich einen Tag länger warte. Dass das nicht geht, liegt daran, dass ich bei dieser Betrachtung das einzige Jetzt verlassen habe und (einen Tag später) ein zweites Jetzt eingenommen habe.
Die Geschichte endet hier aber nicht: Es wäre interessant, wenn man eine unendlich lange Achse entwickeln könnte, so ähnlich wie wenn man lauter kurze Fasern zu einem einzigen quasi unendlich langen Faden verspinnt. Jede einzelne Abschwächungsskala ist ja nicht allzu lang, oder vielmehr verschwimmt ihr "hinteres" Ende in ununterscheidbaren immer kleineren Werten. Alle diese Skalen müssten zu einer langen Skala irgendwie miteinander verhakt werden. Erst dann wäre es interessant, das Ergebnis als Zeitskala aufzufassen.
Das ist aber noch längst nicht alles. Man würde ja meinen, dass die regelmäßig wiederkehrenden Mitternachtssignale eine größere Rolle spielen sollten.
Die Geschichte bis hierhin benötigt keinen Beobachter. Vielmehr kann man sich vorstellen, dass all das Dargelegte, ob es nun falsch oder richtig ist, einfach so IST, ohne dass irgendjemand wüsste, DASS es so ist.
Als nächstes will ich also darüber sinnieren, wie man all die kleinen Skalen zu einer langen Skala verspinnen kann. Dazu muss nun ein "Ich" sich von einer Gegenwart zur anderen bewegen, oder anderswie verschiedene Gegenwarten einnehmen, von denen aus jeweils gesagt wird, was "gestern" oder "vorgestern" ist. Auf einmal braucht man nun dieses Ich.
Ob bei derlei Überlegungen etwas herauskommt, ist unklar. "Der Krüger spinnt", werden einige sagen.

Nr 2 2024

Ratte, Affe, Kant: Kategorischer Imperativ


Nebenbemerkung zum Text: das Wort "ich" benutze ich hier in zwei Weisen, erstens, wie in diesem Satz, als Autor des Textes, zweitens aber auch als einfachstmögliche Bezeichnung für "man selbst" oder "das Individuum selbst". Das führt gelegentlich zu abrupten Übergängen von der grammatikalisch 3. Person ("er/sie/es") zur 1. Person ("ich"), die vielleicht unelegant erscheinen mögen.
Kant hat sich Gedanken gemacht über das eigene Handeln und in welcher Beziehung dieses stehen sollte zum Handeln anderer Personen. Er hat verschiedene Formulierungen hinterlassen; eine davon ist: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Er meint damit also keine einzelnen Handlungen, sondern die Prinzipien, nach denen man zu handeln bestrebt ist, oder auch, nach denen man mögliche Handlungen zurückweist. Es wäre wünschenswert, wenn die Vernunft diese Leistung erbrächte.
Nun hat Kant seine Forderung ja nur vorgebracht, weil er überzeugt ist, dass die meisten Menschen "von allein" so nicht handeln. Sie einfach nur aufzufordern, sich Einschränkungen aufzuerlegen, dass erschien Kant wenig erfolgversprechend, deshalb wünschte er, dass die Einschränkungen aus einem Gesetz hervorgehen sollten. Nur ist eines der Probleme mit einem Gesetz, dass entweder irgendjemand über die gesetzwidrigen Umstände ja doch Bescheid wissen müsste, damit sie geahndet werden können, oder aber das Gesetz ist von einer Art, dass es unmöglich ist, eine Handlung außerhalb der gewünschten Einschränkungen überhaupt auszuführen, wie beispielsweise, wenn gefordert werden würde, dass der Mensch nicht wie ein Vogel fliegen dürfe.
Es wird jedoch nicht nur diese Probleme geben.
Neuronale Prozesse kamen bei Kant nicht vor. Ich unterscheide diese, die sich gedanklich auf einem "neuronalen Niveau" befinden, und für das die gewöhnliche Naturwissenschaft zuständig ist, von Bedeutungen bestimmter neuronaler Prozesse, die die Inhalte des Bewusstseins ausmachen. Die Bedeutungen sind phänomenale Gehalte; sie befinden sich auf dem "phänomenalen Niveau", auf dem die Naturwissenschaft nicht gilt. Was Kant als "Vernunft" bezeichnet, ist ein Teil dieser phänomenalen Gehalte.
Sobald man sagt, man "weiß" etwas, handelt es sich um etwas, das bewusst wird, also um einen phänomenalen Gehalt. Dabei muss man unterscheiden zwischen der unbewusst bleibenden neuronalen Steuerung der Fingerbewegungen, wenn man beispielsweise eine Schere betätigt, und dem bewussten "Wissen" von dieser Bewegung. Ich weiß, dass Daumen und Zeigefinger in den Griffringen stecken und ich sie gegeneinander bewege. Schon was die übrigen Finger genau tun, und wie die Hand orientiert wird, weiß ich nicht. Es ist eher eine beobachtete Feststellung der gröbsten Charakteristika des Geschehens, als eine Erklärung, wie die Steuerung für das Zerschneiden eines Stückes Papier funktioniert. Das Besondere dabei ist, dass ebensogut ein anderer Mensch durch Beobachtung das bewusste Wissen über den Vorgang erlangen kann. Wie die Steuerung wirklich funktioniert, bleibt ihm jedoch verschlossen, ebenso wie mir selbst. Dennoch: in mir findet sie statt; in ihm nicht.
Vor diesem Hintergrund ist nun zu überlegen, wie Kants Forderung hier eingeordnet werden kann. Zum einen handelt es sich nicht nur um mich, sondern auch um andere Personen. Zum anderen ist nicht einfach nur ein motorischer Akt gemeint, und auch nicht der Vorteil, den ich dadurch erlange, sondern die Erwähnung des Gesetzesbegriffs soll zum Ausdruck bringen, dass ich auch passiv die Auswirkungen von Handlungen verspüre, die andere ausführen. Auch beinhaltet der Begriff "Gesetz" immer eine Gültigkeit über lange Zeiträume, wodurch ein Zusammenhang mit Gedächtnisinhalten nahegelegt wird, also von Verknüpfungsdetails des neuronalen Netzwerks. Sie reichen zeitlich über einen Zeitpunkt hinaus, im Gegensatz zu neuronalen Erregungen, die nur im jeweiligen Moment "etwas sind".
Mein neuronales Netzwerk soll also, um dem kategorischen Imperativ zu entsprechen, eine bestimmte länger anhaltende Struktur enthalten. Es gibt aber noch mehrere Zusätze: Diese Struktur soll nicht davon ausgehen, dass ich als einziger Mensch in der Welt existiere, sondern es soll auch Artgenossen geben. In diesen wäre die Entstehung einer Netzwerkstruktur wünschenwert, die zwar nicht unbedingt genau dieselbe wie in mir sein müsste, aber aus der, wenn es darum geht, eine Handlung zu planen, dieselben Einschränkungen für die Handlung hervorgehen wie bei mir. Durch die Verlagerung auf viele Individuen sollen unterschiedliche Einzelinteressen in den Hintergrund gedrängt werden, so dass nur die allen Individuen gemeinsame Interessenlage für unterschiedliche Handlungen zum Tragen kommt. Damit kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Einschränkungen für alle Menschen eher positive Auswirkungen haben. All dieses soll nicht wirklich realisiert sein, sondern es soll nur dargestellt werden, wie ich mir die summarischen Eigenschaften neuronaler Netzwerke in vielen Artgenossen wünsche.
Durch Kants Rückgriff auf eine Gesetzmäßigkeit, und damit auch auf eine Gültigkeit in der Zukunft, entsteht eine Ähnlichkeit mit einem Evolutionsprinzip. Eine Vorstellung von stammesgeschichtlicher Entwicklung, wie sie heute akzeptiert wird, hatte Kant allerdings nicht. Er hat nur geahnt, dass es eine Entwicklung von "niedrig" nach "höher" zwar wohl gäbe, aber es dem Menschen verschlossen sei, das Prinzip dahinter zu erkennen.
In der Tat stützt sich der heute als zutreffend erkannten Darwin'sche Evolutionsmechanismus auf viele Individuen. Wenn sich deren Anzahl in einem bestimmten Lebensraum, oder unter bestimmten Umweltbedingungen erhöht, dann gilt das als positiv, aber im Sinne von Durchsetzungsstärke der eigenen Spezies, und nicht etwa als Ausdruck dafür, dass bestimmte übergeordnete Idealprinzipien zur Geltung gekommen sind, die auch andere Spezies einschließen.
Die Besonderheit ist dabei, dass die Individuen eine begrenzte Lebensdauer haben, wobei an die nächste Generation nur sehr wenige und sehr spezielle Informationen übergeben werden, die dabei auch ein wenig verändert werden können, und die zwischen Individuen vermischt werden können. Der erste Schritt zu einer evolutionären Veränderung ist immer eine zufällige kleine neutrale Variation im Erbgut einiger Individuen. Derartige Variationen können gleichermaßen zu einem Vorteil wie auch zu einem Nachteil führen. Erst im weiteren Verlauf ergibt sich eventuell ein Fitnessvorteil, der an einer allmählichen Zunahme von Individuen mit dem neuen Merkmal erkennbar wird. Ein einzelnes Individuum ohne Geburt und Tod dauerhaft am Leben zu halten und über viele Jahrhunderte immer weiter zu verbessern, dafür scheint es kein Verfahren zu geben, denn dieses müsste von vornherein "wissen", welche Veränderungen "gut" sind. Dazu wäre eine höhere Instanz erforderlich, die dieses Wissen hat.
Daraus könnte man schließen, dass es aussichtslos ist, die "Individuen" "Staatliche Verwaltung" oder "Eisenbahn" ständig weiter in Betrieb zu halten und sie währenddessen durch Bürokratieabbau oder sonstige Umbauten zu verändern, ohne wirklich zu wissen, was dadurch besser wird.
Nun will also Kant mit nur einem Teil der Darwin'schen Prinzipien zurechtkommen, indem zwar viele Individuen beteiligt sind, aber die ins Auge gefassten Vorgänge sollen innerhalb der Lebensdauer von Individuen stattfinden, und von Veränderungen soll von vornherein "gewusst" werden, dass sie einen positiven Effekt haben werden. Dieses Wissen soll dann von mir verlangt werden. Dabei sollen Gedächtnisprozesse die Rolle der Mutationen des genetischen Codes, der Selektion, und von Geburt und Tod übernehmen.
Wenn ich jetzt "Ratte" sage, dann meine ich damit "das allgemeine Tier", d.h. einen Träger des folgenden Prinzips: Das Grundprinzip eines Nervensystems ist, Einwirkungen auf das Lebewesen (Sinnessignale, chemische Umsetzungen von Nährstoffen, Wasser, Atemluft) in nützlicher Art umzuwandeln in Auswirkungen auf, oder Absonderungen in die Außenwelt. Davon wird nicht alles vom Nervensystem geleistet, aber es ist mit Steuerungen überall beteiligt, wobei es durch die Vielfalt seiner Möglichkeiten glänzt.
Von vornherein kann man schon sagen, dass Kants Idee nicht funktionieren würde, wenn von Ratten statt von Menschen die Rede wäre. Der Hauptgrund dafür ist, dass eine Ratte keinen neuronalen Mechanismus hat, der ihr ermöglicht, zu erkennen, dass sie selbst eine Ratte ist wie ihre Artgenossen, die sie natürlich sehr gut erkennt. Man kann sich das Problem gut vorstellen anhand einer Kamera, die andere baugleiche Kameras fotografiert. Hier sieht man deutlich, dass da ein grundsätzlicher informationsmäßiger Unterschied besteht zwischen der fotografierenden und der fotografierten Kamera. So ist es auch für die Ratten: Neuronal gesehen, ist die Ratte selbst ein Unikum (im Wesentlichen "ist" sie ihr gesamtes neuronales Netzwerk), wohingegen andere Ratten innerhalb dieses Netzwerks durch besondere Prozeduren dargestellt sind, die der Erkennung anderer Ratten, und den Wechselwirkungen mit ihnen dienen. Diesen Punkt hatte ich schon im Hirnbrief 27;2009 beschrieben. Im Grunde genommen gibt es für eine Ratte keine Außenwelt; es gibt nur innere neuronale Prozesse (die zB. von der sensorischen Meldung einer heruntergefallenen Kirsche ausgelöst werden) und die durch die besonderen neuronalen Verschaltungen (mit Verzögerungen und Lernvorgängen) ermöglichen, dass die Ratte eine Serie geeigneter Motorsignale produziert, die schließlich dazu führen, dass diese Kirsche wiederum Sinnessignale im Maul der Ratte auslöst, weil sie sie sich geholt hat und sie nun frisst. So geht es immer weiter. Was ein Mensch "die Außenwelt" nennt, ist für eine Ratte nur ein neuronales Innenleben, ein ständiges, durch Lernen verfeinertes Miteinander-Verbinden von sensorischen und motorischen Signalen. Im Gegensatz zum Menschen weiß die Ratte nicht, dass das so ist, ebenso wie sie (und auch der Mensch) nicht weiß, was ihre Nieren gerade tun. Leistungsfähig ist sowohl die Ratte als auch die menschliche Niere ohne ein Außenweltkonzept.
Nun gab es jedoch die Affen, die in der Evolution sozusagen bemerkt haben, dass ihre eigenen Hände, für die sie besonders leistungsfähige neuronale Verknüpfungen bereithalten, rein visuell den Händen von Artgenossen ähneln mitsamt ihren komplexen Bewegungsabfolgen, motorische Signale dabei aber nicht vorkommen. Die Geschichte habe ich in den Hirnbriefen 27,2009 und 3,2020 angesprochen; die Spiegelneurone spielen dabei eine Rolle. Hier kommt es vor allem darauf an, dass die Unterschiede zwischen eigenen und fremden hantierenden Händen zu einem Konzept führen, das besagt: "(fremde) Hände, die ich als im Prinzip ansteuerbar erkenne, aber doch nicht bewegen kann, sind irgendwie außerhalb meiner neuronalen Welt". Allein "neuronal erkennbar und beweglich, aber motorisch nicht ansteuerbar" ergibt für die Affen eine neue Einteilung seiner neuronalen Daten: Es ist eine sehr umfangreiche Welt, im Wesentlichen ist es die, die ein Mensch als Außenwelt ansieht. Sie kann nur entstehen, wenn das Sehen die dominanten Sinnessignale liefert. Wenn man einmal bei einem derartigen Außenweltkonzept angekommen ist, dann kehrt sich die anfängliche Geschichte um: nun sind es die eigenen Hände, die ebenfalls in die Kategorie "Außenwelt" fallen könnten, sofern man von ihrer neuronalen Ansteuerbarkeit absieht.
Auf diese Weise kann der Affe erkennen, dass er so etwas ist wie seine Artgenossen. Oder anders ausgedrückt: Es gibt eine Welt, in der sowohl er selbst als auch seine Artgenossen in vergleichbarer Weise vorkommen. Diese Erkenntnis kann sich aber nur auf Anblicke von außen beziehen; das neuronale Innenleben von Artgenossen bleibt unzugänglich. Diese Erkenntnisse sind zwar schon ein Teil der Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins, aber im Gegensatz zu diesem lässt sich die Geschichte bis hier hin noch rein neuronal (also verträglich mit gewöhnlicher Naturwissenschaft) darstellen. Deshalb ist damit nicht gesagt, dass ein Affe weiß, dass all dieses so ist, denn solches Wissen ist ein phänomenaler Gehalt des Bewusstseins. Wie auch immer: Was diesen Teil der Geschichte betrifft, hat der Mensch auch nichts Besseres als der Affe: Von Artgenossen kennt er nur den Außenanblick, und er weiß, dass dieser seinem eigenen ähnelt.
Die bittere Konsequenz davon ist, dass ich mir das neuronale Innenleben eines anderen Menschen nur anhand meines eigenen Innenlebens zusammenreimen kann, und dazu allerlei über die Außen-Anblicke hinzuhole. Das dabei entstehende Wörterbuch "Innenleben/Außenanblick" kann nur ungefähre Zusammenhänge wiedergeben. Es bleibt nicht nur beim Sehen, sondern auch noch das Hören in Form von Sprache kommt hinzu. Dennoch, einen belastbaren Zugang zum Innenleben eines anderen bekomme ich nicht. Da hilft es auch nicht, dass das Ganze bei mir nicht auf dem neuronalen, sondern auf dem phänomenalen Niveau stattfindet, das eher außenweltzentriert ist. Dass das Letztere bei meinen Genossen überhaupt existiert, ist eine unbeweisbare Annahme als Konsequenz der Subjektivität des Bewusstseins.
Nun stellt sich Kant also den oben erwähnten Handlungsrahmen in einem "ich", also in mir vor. Es ist jetzt nicht wichtig, welche Aussagen und Forderungen dieser Rahmen umfasst. Jedenfalls entstehen sie in meinem Gehirn. Was heißt hier "entstehen"? Die neuronale Vernetzung im Gehirn besteht aus einer riesigen Anzahl von ausgearbeiteten Prozeduren in Form eines Netzes von Verbindungsstärken zwischen Neuronen. Diese Prozeduren laufen jedoch nicht, sondern sie springen erst an in Form neuronaler Erregungen, sobald die zu einer bestimmten Prozedur passenden Eingangssignale eintreffen. Deren Ergebnisse gehen nicht unbedingt direkt an die Muskeln, sondern können Eingangssignale für andere Prozeduren sein. Zusätzlich gibt es für all diese Prozeduren "höhere" Steuerungsmechanismen: Der Lauf der Prozeduren kann durch Motivationsprozeduren gesteuert werden, die viel weniger komplex sind, die aber entscheiden, ob eine bestimmte Prozedur oft und leicht bei nur ungefähr passenden Gelegenheiten anspringt, nur selten, unter genau für diese Prozedur optimalen Umständen, oder überhaupt nicht. Diese Rolle können auch Übertragungssubstanzen ("Transmitter") spielen, die von bestimmten Neuronen abgesondert werden, aber die nicht über Synapsen einwirken auf die dort direkt "angeschlossenen" Neurone, sondern die sich mehr oder weniger weit ins Gewebe ergießen und zwischen den Neuronen ausbreiten. Da sind Hormone beteiligt; Müdigkeit, Lust, Hunger, Lebensalter kann eine Rolle spielen, und all diese Einflüsse können die Motivationsmechanismen über viele Jahre hinweg per Gedächtnisbildung formen. Ohne dass man genau sagen kann, wie es geschieht: Auf diesem Niveau bildet sich in mir die von Kant erhoffte Wunschvorstellung, die meine tatsächlichen Handlungen steuert. Dass diese Vorstellung eine positive Auswirkung hat, ist nachträglich daran erkennbar, dass ich die entsprechenden Rahmenbedingungen öfter einhalte als es vielleicht früher der Fall war, oder als meine Genossen es tun. Es muss sicherlich noch weitere Kriterien geben, denn es ist nicht eindeutig, was als wünschenswert erachtet werden sollte.
Und nun soll in mir eine zusätzliche Vorstellung entstehen: Die Motivationsmechanismen, die sich in mir auf diese Weise herausgebildet haben, sollen ausschließen, dass sie nur Vorteile für mich haben, aber meinen Genossen zum Nachteil gereichen. Hier muss ich mich auf meine Affenvergangenheit beziehen, also erkennen, dass "ich" so etwas bin wie ein Artgenosse. Ich muss also die allgemeine Ähnlichkeit von mir, von außen gesehen, mit den Anblicken meiner Genossen prozedural im Griff haben. Ich muss eine Prozedur haben, die erwünschte oder unerwünschte Ergebnisse einer Handlung beobachtet und analysiert, wenn sowohl ich als auch ein Genosse sie ausführt. Dass so etwas schon in Affen stattfindet, kann man an Spiegelneuronen in deren Gehirnen sehen. Damit könnten dann die gewünschten Anblicke der Genossen bei der Steuerung meines Verhaltens mitwirken. Dies ist eine rein prozedurale neuronale Affäre; eine "Vorstellung" im Sinne eines video-artigen Aufscheinens einer Handlungsszene im Bewusstsein ist das nicht. Alles verläuft unbewusst, so dass es über die Tatsache hinaus, dass das so ist, kein weiteres gedankliches Niveau für eine Vorstellung gibt. Es ist so, wie wenn in der Niere ein bestimmter Rahmen für den Ablauf von nierentypischen Stoffwechselprozeduren entstanden wäre: ein Vorgang ist dann so, aber weder ich noch sonst jemand (und auch nicht die Niere) wüsste, dass er so ist, etwa in Form einer Vorstellung.
Aber immerhin, es wäre ein Einfluss von Artgenossen, der durchaus etwas gesetz-artiges hat. Nur bin ich selbst, mit dem neuronalen Netzwerk in meinem Gehirn, der Gesetzgeber. Hingegen bei gewöhnlichen Gesetzen spielt der Staat diese Rolle, oder bei (unausweichlichen) Naturgesetzen ist es die Natur.
Kant hat mit seinen Überlegungen sicherlich keine unbewussten Vorgänge gemeint. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass ich das Wort "öfter" einige Zeilen weiter oben verwendet habe. Es bezieht sich auf Wiederholungen. Ein Lebewesen wie eine Ratte, oder sogar ein Affe, lebt immer in der Gegenwart. Dass es in der Vergangenheit Ereignisse gab, die einem gegenwärtigen ähneln, also sich wiederholen, bleibt unzugänglich. Das ist nicht zu verwechseln mit dem prozeduralen Lernen durch Wiederholungen, bei dem man aber immer nur das momentane gegenwärtige Endergebnis zur Nutzung erhält, nicht aber nachträglich, aus welchen Einzelfällen es sich in Vergangenheit zusammengesetzt hat. Zu Fragen von dieser Art hatte ich schon mehrere Hirnbriefe geschrieben, erstmals, ganz kurz in 31,2009, dann zB. in 1,2020, 1,2022, oder dem vorigen, 1,2024. Ohne all dieses erneut hier auszuführen, kann man zusammenfassend sagen, dass eine Ratte, und auch noch ein Affe, mit all dem zurechtkommt, was ihm rein physiologisch in der jeweiligen Gegenwart zur Verfügung steht. Ein Nutzen aus vergangenen Vorgängen kann später nicht gewonnen werden, wenn man es versäumt hat, sie zu nutzen, als sie noch Gegenwart waren.
Im nächsten Schritt soll meine Wunschvorstellung eines Gesetzes gar nicht einmal existieren, sondern ich soll mir nur seine Auswirkung vorstellen, wenn es existierte. Das heißt, dass ich mir also sogleich meine Unterordnung unter das gedachte Gesetz mit vorstellen soll. Während ich also eine Handlung ausführe, sollen alle genannten Überlegungen einfließen. (Ich will mich nicht auch noch damit befassen, dass letztendlich über all dem noch eine weitere gedankliche Etage schwebt, weil in Kants Gehirn kein Anwendungsfall der vorliegenden Ideen eintritt, sondern er an seinem Schreibtisch sitzt und seine Vorstellung über den kategorischen Imperativ niederschreibt.)
Es bedarf einiger Übung, sich vorzustellen, wie es ist, wenn man kein Bewusstsein hat. Man "weiß" dann nichts, und dennoch ist man zu komplizierten Leistungen fähig. Im Hirnbrief 3,2020 habe ich einiges dazu geschrieben. Das Bewusstsein hängt auf jeden Fall zusammen mit einem nachträglichen Holen-in-die-Gegenwart von vergangenen Vorgängen aller Art, die also nicht existieren (ich sage absichtlich nicht: ...die nicht mehr existieren). Es ist klar, dass nur Prozesse in der Gegenwart laufen können. Also muss man von einem interessierenden Vorgang, während er in der Gegenwart läuft, eine Speicherung anfertigen, die man dann in einer späteren Gegenwart abrufen kann. Das ist das neuronale Verfahren "episodische Speicherung". Deren rein neurotechnische Realisierung ist kein besonderes Problem. Dieses Verfahren holt einen vergangenen Erregungsvorgang sozusagen "unverdaut" in die Gegenwart, so dass er weiter verarbeitet werden kann. Derartige Inhalte könnten durchaus auch direkt in die Gegenwart passen; genau deshalb ist der Umgang mit diesem Typ von Gedächtnis enorm gefährlich wegen der Verwechslungsgefahr mit echten gegenwärtigen Vorgängen.
Wir Menschen freuen uns darüber, Nachkommen von affenartigen Wesen zu sein, weil diese uns den Umgang mit einer ähnlichen Art von Gefahr vererbt haben, denn sie mussten mit der möglichen Verwechslung von eigenen und fremden Händen zurechtkommen. Dieses Problem ist vergleichbar mit dem durch das episodische Gedächtnis entstandene: Während die Affen ein neues Ordnungsprinzip erschaffen hatten, das besagt, dass es nicht nur die eigene neuronale Aktivität ist, die etwas bewirken kann, sondern dass es Erscheinungen gibt (nämlich die fremden Affenhände), die genau so aussehen wie die eigenen Hände, auf die Ursachen von deren Bewegung man aber keinen Einfluss hat. Das hat sich erweitert zu der Auffassung, dass es einen klar abgrenzbaren riesengroßen Bereich von Signalen gibt, auf deren Ursachen man keinen Einfluss hat, weil sie aus einer Außenwelt kommen. Damit wird das Konzept einer Außenwelt erfunden. All dieses blieb jedoch immer in der Gegenwart.
Und nun wird die Sache nochmals erweitert, indem es zusätzlich zu gegenwärtigen Ereignissen alle diejenigen gibt, die aus einem Speicher geholt werden können, sofern man sie früher dort abgelegt hat. Das ist der Schritt vom Affen zum Menschen. Auch hier ist die Gesamtheit all dessen, was früher mal war, viel größer als das, was gerade läuft. Dass es sich dabei um "Vergangenheit" in einem zeitlichen Sinne handelt, ist damit zunächst nicht gesagt.
Das Besondere, und auch besonders Unverständliche, ist, dass alle Bewusstseinsinhalte aus episodischen Speichern stammen, egal ob diese gerade (d.h. in der Gegenwart) eingespeichert werden und im selben Moment bewusst werden, oder ob sie später aus dem Speicher ausgelesen werden. Es gibt keine Bewusstseinsinhalte, an die man sich nicht wenigstens eine kurze Zeitspanne lang erinnern kann. Während die Speicherinhalte mehr oder weniger kompakte Kopien von tatsächlich gelaufenen Erregungsprozessen sind, erscheinen davon im Bewusstsein (als phänomenale Gehalte) nur Bedeutungen, die in vielen Fällen nur wiedergeben, was von außen von dem Vorgang beobachtbar wäre, wenn dieser verbotenerweise doch zum Laufen gebracht würde. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Beobachtbarkeit von außen auch bedeutet, dass mir der Vorgang in einer Weise, d.h. in einem "Format" bewusst wird, das auch meinen Artgenossen zur Verfügung steht.
Während die Affen zwar einen wesentlichen Entwicklungsschritt in Richtung Bewusstsein getan haben, bleibt dieser Schritt im Wesentlichen durch rein neuronale Vorgänge darstellbar. Man sieht nicht, dass da ein besonderes phänomenales Niveau existieren sollte, so dass es zu einem Aufscheinen von Inhalten in einem Bewusstsein käme. Das passiert erst im Menschen durch den Zugang zu nicht existierenden (nämlich vergangenen) Vorgängen, über das episodische Gedächtnis. Das ist eine Affäre von einem Individuum ganz allein. Hinzu kommt (siehe Hirnbrief 1;2020), dass Neurone nur auf Änderungen reagieren können, wodurch Integrale über die Zeit und in grauer Vorzeit liegende unzugängliche Anfangsbedingungen wichtig werden (das kann hier nicht näher ausgeführt werden; siehe Hirnbrief 1;2020). Es ist wohl der ausgiebige Umgang mit Daten, die von nicht existierenden Vorgängen stammen, die dazu führen, dass das Bewusstsein sich naturwissenschaftlich nicht erfassen lässt.
Wie kommt denn nun Kants Imperativ schrittweise zustande? Am besten schaut man sich das Ganze sozusagen nach Zwiebelschalenmanier an. Man beginnt innen, und zwar erst als tatsächlichen, dann als gedachten Vorgang.
Als erstes wickle ich also eine Handlung ab. Selbstverständlich läuft diese, ganz allgemein, wie alles im Gehirn und auch in jedem anderen Organ, in der Gegenwart ab. Dafür kann es auslösende Sinnessignale geben. Auf jeden Fall werden Muskeln angesteuert, so dass von außen eine Bewegung beobachtet werden kann. Auf meinem eigenen phänomenalen Niveau erscheint dann dieser Außenanblick, wohingegen die Muskelansteuerung für das Bewusstsein unzugänglich ist. Der Außenanblick ist auch Artgenossen zugänglich.
Wie gesagt geht es hauptsächlich um die Motivationsprozeduren, die mit meinen Willen zusammenhängen. Auf diesem Niveau soll Kants Einschränkung wirken.
All dieses soll jedoch nicht wirklich stattfinden, sondern liegt nur in Form von Gedanken vor. Dazu müssen die Motivationsprozeduren episodisch abgespeichert werden. Das geht nur, indem sie (oder spezielle neuronale Verweise) zum Zweck der Abspeicherung irgendwann im Leben tatsächlich gelaufen sind. Auf dem phänomenalen Niveau erscheint dann beispielsweise "ich tue das gern", oder "von dieser Aktion habe ich einen Nutzen". Also liegt in mir eine Sammlung gespeicherter Motivationsprozeduren vor. Kants Forderung bedeutet, dass nur ein Auswahl von diesen in Betrieb genommen werden sollte, und zwar bei allen Menschen, mich eingeschlossen.
Nun fordert Kant, dass diese Auswahl durch ein Gesetz erfolgen soll. Eigentlich denkt man im Rahmen der Biologie dabei an eine Prozedur (die ich die "Kat-Imp-Prozedur" nenne) auf einer höheren Stufe, die nur die gewünschten Fälle erkennt und weiter verarbeitet. Ein Mechanismus könnte zusätzlich beteiligt sein, der erschwert, dass eine solche Prozedur durch Lernen ständig verändert wird. Wenn das so wäre, würde ich jedoch von diesem Gesetz, das in mir wirkt, nichts wissen, weil von der Tätigkeit von Prozeduren generell nichts im Bewusstsein aufscheint. Ich erhielte vielmehr das unausweichliche Gefühl, dass mir ein Spektrum von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung steht, das ich für komplett hielte. Ich wäre nicht befähigt, Handlungen, die Kants Wünschen nicht entsprächen, auszuführen oder auch nur zu kennen. Mit einem derartigen Mechanismus könnte immerhin erreicht werden, dass ich mir nicht bei jeder einzelnen Handlung überlegen muss, ob sie in den Rahmen des Gewünschten fallen, denn andere Handlungsmöglichkeiten stünden mir nicht zur Verfügung.
Allerdings gibt es für ein derartiges Gesetz keinen anderen Weg, als dass ich die Kat-Imp-Prozedur durch einen Lernvorgang erzeuge. Eine andere, außerhalb stehende Autorität steht ja nicht zur Verfügung. Ich selbst müsste die Unterschiede zwischen erwünschten und unerwünschten Handlungen nicht nur kennen, sondern die entsprechenden Entscheidungen auch fällen, und zwar sogleich beim Beginn des Lernvorgangs. Ich soll auch selbst die Auswirkungen derselben Handlung verspüren, wenn ein Genosse sie ausführt. Also muss ich beide Rollen, eine aktive und eine passive, selbst spielen. Das sieht nicht gut aus für das Projekt. Aber wie auch immer: Wenn das doch so klappte, würde Kant jubeln. Vermutlich hat er vielmehr geahnt, dass ein tatsächliches Gesetz wohl auf diese Weise kaum entstehen könnte. Deshalb hat er vorsichtshalber vorgeschlagen, sich ein solches Gesetz nur vorzustellen, wobei vor allem die Auswahl des Wünschenswerten als schon abgehakt gedacht werden sollte.
In der stammesgeschichtlichen Entwicklung ist das Prinzip, dass in jedem Individuum zufällige Variationen ohne Bezug zu ihren Folgen entstehen können. Erst später, oft nach einigen Generationenfolgen, erweist sich durch die Wechselwirkung mit einer ganz anderen Instanz, nämlich der Umwelt mitsamt den Artgenossen, ob eine Variation einen Fortschritt bedeutet, und das aber auch nur für die betroffene Spezies. Wären Kant diese Prinzipien bekannt gewesen, dann hätte er sicherlich versucht, seine Überlegungen an diese anzulehnen. So hingegen bleibt nicht viel mehr als ein dahingehauchtes "schön wär's", wenn es so ginge, wie Kant es sich vorgestellt hat.
Immerhin: Ich musste erkennen, dass ich von außen gesehen so etwas bin wie ein Artgenosse. Im Zuge dessen musste ich erkennen, dass es reguläre Veränderungen in einer riesigen  Welt gibt, die ich nicht verursache. Ich musste erkennen, dass "ich in der Vergangenheit" so ähnlich behandelt werden muss wie ein gegenwärtiger Artgenosse: ich kann weder in mir in der Vergangenheit, noch im Artgenossen Bewegungskommandos generieren. Schließlich musste ich erkennen, dass es eine riesige vergangene Welt gibt, an der ich nichts mehr ändern kann. All dieses musste gegeben sein, damit Kants Überlegungen überhaupt angestellt werden konnten. Die weiteren gedanklichen Schritte lassen jedoch wenig Hoffnung, dass eine tragfähige Wende zu einer besseren Menschheit erreicht wird. Das Hauptproblem ist, dass alles im Gehirn von mir stattfinden soll, und doch schon vor einer Tat gewusst werden muss, ob sie wertvoll oder schädlich ist.